»Schlaf gut, Lukas. Ich bin mir sicher, wir treffen uns noch früh genug wieder.«
Damit wandte sie sich ab und ging. Ein schwarz gekleideter Sicherheitsangestellter stand mit einem Regenschirm parat, als sie den Baldachin verließ. Auf den Pflastersteinen des Gartenwegs zur Vorderseite der Villa klackten die Absätze ihrer Schuhe laut.
Kreft sah, wie sie noch einen Blick über die Schulter warf, während das Tor für sie geöffnet wurde. Dann verschwand sie um die Ecke. Er glättete seinen Anzug erneut, hob seinen eigenen Schirm und kehrte aufmerksam von anderen Männern in Schwarz im Auge behalten, zu seinem Wagen zurück. Als er sich auf der Rückbank des Rolls-Royce niederließ, war er zuversichtlich, genau das erreicht zu haben, was er vorgesehen hatte. Der MI5 und die anderen britischen Geheimdienste würden ihm bestimmt keinen Kummer mehr bereiten.
Montag, 09:01 Uhr Ortszeit, Bushaltestelle J – Lambeth Road London, England
Declan tat so, als sei er mit seinem Smartphone beschäftigt, während er lässig auf der schmalen Bank unter der Überdachung der Haltestelle saß, und nahm den Doppeldeckerbus immer noch nicht zur Kenntnis, der gerade wenige Fuß vor ihm angehalten hatte. Stattdessen schlug er die Oberschenkel übereinander und fuhr mit dem Daumen über den Touchscreen, während die letzten Fahrgäste hastig einstiegen, Koffer und Schirme verstauten und ihre Fahrkarten noch einmal überflogen, bevor sie Platz nahmen. Der Fahrer wartete kurz für den Fall, dass noch jemand mitkommen wollte, drückte aber nach ein paar Augenblicken den Knopf, um die Tür zu schließen. Sekunden später fuhr der leuchtend rote Bolide davon, und zurück blieb der unverkennbare Gestank von Dieselkraftstoff.
Declan schaute dem Bus hinterher und dann auf die andere Straßenseite. Er saß seit knapp zwanzig Minuten an dieser Stelle, doch was das Gebäude betraf, das er beobachtete, hatte sich weder darin noch ringsherum etwas bewegt. Sollte er sich darüber wundern? Er war sich nicht ganz sicher. Vom Zentrum Londons aus gelangte man im Nu zu Fuß nach Lambeth, wo viele berufstätige Bürger der Stadt lebten, die vermutlich ganz in der Nähe arbeiteten. Vielleicht waren die Bewohner der Appartements über dem allem Anschein nach vor langer Zeit geschlossenen Pub im Erdgeschoss auch bereits zu ihrer Schicht aufgebrochen.
Er stand langsam auf und steckte das Telefon zurück in seine Jeans. Genau herausfinden, ob noch jemand in dem Gebäude war, konnte er nur auf eine Weise. Nachdem er sich abermals aus Gewohnheit umgeschaut hatte, blickte er die Straße hinauf und hinunter, wie er es zu Hause in Amerika getan hätte, ehe er sie überquerte.
Davon einmal abgesehen, dass das Gebäude kleiner als die anderen in der Gegend war, fiel es nicht weiter auf. Es bestand genau wie die benachbarten aus Ziegelsteinen, war nicht verputzt und mit einer lackierten Holzleiste über dem Erdgeschoss ausgestattet, welche die dortige Gewerbefläche von den Wohnungen darüber absetzte. Die Fenster hatte man mit weißen Bögen verziert, aber offenbar seit Jahren nicht mehr neu gestrichen. Es sah in nahezu allen Belangen, exakt wie ein Haus aus, in dem sich Shane O'Reilly wohlfühlen würde.
Schließlich betrat er den Bürgersteig und ging auf die Erdgeschossfenster zu. Er hatte sich anscheinend getäuscht. Die Kneipe – es könnte auch ein Restaurant sein – war nicht geschlossen, jedenfalls nicht auf Dauer. Drinnen hatte man die Stühle umgedreht mit den Sitzflächen auf die Tische gestellt, und obwohl alles ein wenig älter aussah, schien es bereit für das Tagesgeschäft zu sein und würde voraussichtlich irgendwann in den nächsten Stunden öffnen. Das half Declan allerdings auch nicht weiter. Ihn interessierten nämlich die Appartements. Er folgte dem Gehsteig bis zu einer Doppeltür, deren Steinrahmen farblich hervorgehoben war. An einem Flügel hatte man auf Augenhöhe mit Klebebuchstaben den Hinweis »Wohnungen 1 & 2« angebracht, an dem anderen stand »Wohnungen 3-7«. Passten tatsächlich sieben beziehbare Wohnungen in die beiden oberen Etagen? Kaum zu glauben, aber London durfte sich ja bekanntlich auch nicht unbedingt wegen seiner geräumigen Wohnflächen rühmen.
Declan drückte einen Knopf an der Gegensprechanlage neben dem Türflügel, der zu den letzten fünf Appartements führte, und wartete. Shane hatte die Nummer 5. Keine Reaktion. Nachdem er noch einmal geläutet hatte, trat er ein Stück zurück, um an der Fassade hochzuschauen. Hinter keinem der Fenster machte jemand Anstalten, in Erfahrung zu bringen, wer an der Tür war. Darum ging er hinüber und versuchte es an dem Flügel für die Wohnungen 1 und 2. Falls der Vermieter im Haus lebte, dann logischerweise, wie Declan annahm, im Erdgeschoss, wo sich der Empfang für die neueren Interessenten und die Übersicht der einzelnen Anlagegüter oberhalb einfacher gestaltete. Aber auch hier meldete sich niemand, und von drinnen hörte man auch nichts. Was nun?
Declan nahm sein Smartphone wieder heraus, schaltete den Bildschirm ein und überlegte, welche Möglichkeiten ihm jetzt noch blieben. Er hatte wiederholt versucht, Shane anzurufen, und sich erst dann hierher auf den Weg gemacht, aber beides war vergeblich gewesen. So wie die Stunden dahinzogen, nahm die Angst, sein Freund sei denselben Männern zum Opfer gefallen, die auch ihm selbst am Abend zuvor fast zum Verhängnis geworden waren, immer mehr zu. Obwohl auch Shane Declans Einheit angehört und somit eine entsprechende Ausbildung genossen hatte, gehörte der Nahkampf nicht zu seinen natürlichen Stärken, weshalb kaum ein Zweifel daran bestand, dass eine Handvoll gut bewaffneter Bösewichte ihn ohne Probleme überwältigen konnten – insbesondere aus dem Hinterhalt heraus.
Wieder schaute Declan zu den Wohnungen hoch. Am helllichten Tag in ein Appartementgebäude in einer der Städte mit den meisten Überwachungskameras der Welt einbrechen zu wollen, war äußerst unrealistisch, doch er musste irgendwie herausfinden, ob Shane zu Hause war oder die Wohnung wenigstens innerhalb der vergangenen vierundzwanzig Stunden aufgesucht hatte. Konnte er die Tür schnell genug eintreten, ohne dass jemand bemerkte, was geschehen war? Er drehte sich um und fasste die Umgebung ins Auge. Auf den Bürgersteigen hielt sich auf eine Entfernung von jeweils mindestens hundert Yards niemand auf, doch überall waren Fenster und theoretisch könnte hinter jedem von ihnen ein Zeuge stehen. Deshalb verwarf er die Idee schnell wieder. Sie kam ihm zu gefährlich vor. Denn wenn es eines zu vermeiden galt, dann Erklärungsnöte gegenüber der städtischen Polizei. Folglich musste er die Suche nach Shane woanders fortsetzen. Er bog um die Ecke, um den Bus zum nächsten Ort zu nehmen, der infrage kam und wo er hoffentlich genaueren Aufschluss erhalten würde.
»Hallo?«
Declan blieb abrupt stehen. Die Stimme hörte sich alt und verärgert an. Sie kam von hinten, also fuhr er herum und schaute hoch. Eines der hinteren Fenster des Gebäudes, in dem Shane lebte, war ein paar Zoll weit geöffnet worden, und eine Frau mit runzligem Gesicht blickte durch den schmalen Spalt. Declan lächelte sie an und kehrte zu der Tür unter dem Fenster zurück.
»Hallo. Ich suche den Mann, der in Nummer 5 wohnt. Wissen Sie, ob …«
»Ich verstehe Sie nicht. Moment.«
Er beobachtete, wie die Frau hinter der Scheibe zurücktrat und das Fenster zuknallte. Dann schaute er gespannt auf die Doppeltür und fragte sich, auf welcher Seite das Großmütterchen herauskommen würde. Stattdessen hörte er aber ein lautes Brummen und Klicken, weil das Schloss des Flügels zu den Wohnungen 3 bis 7 entriegelt wurde. Abermals lächelnd drückte er die Tür auf und stieß gleich darauf auf eine schmale Treppe mit hohen Stufen, die an den Eingängen zu Nummer 1 und 2 vorbei nach oben führte. Er betrat das Gebäude zögerlich und ging bis zum Absatz der ersten Etage hinauf. Die alten Holzdielen knarrten bei jedem Schritt, und die Vibrationen brachten die Staubflocken darauf zum Tänzeln. Nachdem er um die Ecke gebogen war, sah er die Frau in der Tür der hintersten Wohnung stehen. Der Flur führte direkt zum zweiten Treppenlauf.
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