Es hatten sich zwei Schafkopfrunden gebildet und eine Handvoll ratschende »Zuschauer« gesellte sich um die Spieler. Die Schaulustigen bei einem Schafkopf bezeichnete man in Bayern auch als »Brunzkartler«. Auf gut Deutsch bedeutete das: Wenn einen der Spieler die Blase drückte, dann gab es quasi Ersatzmänner an Ort und Stelle, die den Stammspieler dann in der Zeit seines Toilettengangs vertraten. Der korrekte Aufruf dazu hieß dann: »He, kannst du a mal aufsitzen?«
Unter den »Brunzkartlern« waren der Sepp – und somit auch der Erwin –, der Karl Brandl, der Fritz Kronschnabl, der Hansi und der Ashanti. Ja, richtig gelesen – der Ashanti. Das bedarf vielleicht ein klein wenig der Erklärung: Eigentlich wurde der Ashanti als Alois Amberger in Unterfilzbach geboren. Zu seinem exotischen Neu-Namen kam er, als er vom Versicherungsvertreter zum Yoga- und Kamasutra-Guru umgesattelt hatte, angeblich in einem indischen Aschram. Nun war der Ashanti zwar eigentlich eine gute Haut, aber halt eine besonders faule. Ein Lebemann, der es nicht unbedingt so sehr mit körperlicher Arbeit hatte und sich seinen Lebensunterhalt lieber von treuen Fans schenken ließ. Im Gegenzug »schenkte« Ashanti der Menschheit gerne viele Lebensweisheiten, extremistische Esoterikratschläge und wenn‘s grad pressierte auch einmal eine kurze Handauflegung gegen die schlechten Schwingungen und für gutes Karma. Nach seiner beruflichen Selbstfindung war er schließlich im Altenheim »Zum ewigen Licht« als Senior-Life-Coach gelandet, was im Prinzip mit einem Unterhaltungsanimateur für betagte Herrschaften gleichzusetzen war. Eine Hausmeisterwohnung war bei diesem Job inklusive, was dem glücklosen Ex-WG-Bewohner Ashanti sehr entgegenkam. Dass er dabei auch im Winter den Schneeräumdienst vor der Seniorenresidenz zu erledigen hatte, beziehungsweise im Sommer für die Mäharbeiten verantwortlich war, verdrängte er die meiste Zeit über sehr gekonnt. Zur Not bat er dann wieder einmal den gutmütigen Sepp um Hilfe. Ashanti hatte in den vergangenen zwei Jahren für reichlich Wirbel in Unterfilzbach gesorgt, aber auch das waren lange Geschichten. Inzwischen war es recht ruhig um den Esoterik-Guru geworden und es schien, als hätte er seine Bestimmung im Altenheim gefunden.
Der bierlaunige Ideenreichtum im Dorfwirtssaal brachte nun an diesem Abend die Erkenntnis zutage, dass es im Prinzip noch keine Evakuierungspläne für die Seniorenresidenz im Falle eines Notfalls wie Brand oder Ähnlichem gab. Alle Anwesenden waren der Meinung, dass dies absolut eine Aufgabe für einen Senior-Life-Coach wäre und dies schnellstmöglich erarbeitet werden sollte. Hansi wäre als Mitglied des Gemeinderats, Seniorenbeauftragter und alter Feuerwehrler als Fachberater geradezu prädestiniert gewesen. Die übrig gebliebene Trauergemeinde war vollends entzückt von dieser Idee, Ashanti und Hansi eher weniger. Hansi deshalb nicht, weil er Ashanti mit seinem Esoterikgelaber absolut nicht leiden konnte und es ihm regelrecht die Zehennägel aufrollte, wenn er mit seinen langen grauen Haaren und seinen Leinengewändern angetänzelt kam. Und Ashanti, weil er mit Druck und Verantwortung nicht wirklich umgehen konnte und das halt alles auch nach echter Arbeit aussah. Nach kurzem Schluchzen von Ashanti erklärte sich dann auch Sepp bereit, bei diesem Projekt mitzuwirken, damit hatte das Ganze eine professionelle Chance, um auch zu einem wirklichen Ergebnis zu führen. Denn Hansi und Ashanti hätten sich vermutlich wohl im männlichen Zickenkrieg aufgerieben. Der Plan war gefasst und im Prinzip musste Hansi zugeben, dass dies auf jeden Fall eine Notwendigkeit war, ob mit oder ohne Ashanti.
Der Kronschnabl Fritz ließ sich aber wie immer nicht von der Euphorie über dieses amüsante, aber sinnvolle Vorhaben anstecken und »seuferte« – oder auf gut Deutsch meckerte – über die fehlende Ernsthaftigkeit seiner Kameraden. Wie immer halt. Außerdem stellte er wiederholt fest, dass Sepp als Kommandant absolut ungeeignet war, wenn er aus solchen ernsten Dingen eine Art spaßige Belustigungsaktion machte. Aber er wurde nicht wirklich gehört, der alte »Seuferer« Fritz. Erst als Karl Brandl dem Kronschnabl recht gab, flaute das allgemeine Gelächter ein wenig ab und wich einer überraschten Stille. Das war schon sehr seltsam, wenn der Fritz auf einmal einen Unterstützer hatte und dann auch noch den Karl. Karls Themenkreis hatte sich bisher eigentlich immer nur um Autos, Frauen und Partys gedreht. So eine seriöse Seite an ihm war schon bemerkenswert und sehr unerwartet. War dies der Beginn einer neuen Männerfreundschaft? Oder wollte der Karl jetzt sein Image ändern?
Nachdem sich die Runde beim Dorfwirt gegen Mitternacht endlich aufgelöst hatte, plagte Sepp ein unglaublich schlechtes Gewissen. Der pflichtbewusste Sepp ließ das Auto natürlich stehen, denn er hatte ja einige Biere konsumiert.
Dem sonnigen Novembernachmittag schloss sich eine recht kühle und regnerische Novembernacht an. Das war eigentlich nicht so tragisch, denn Sepp machte das nichts aus. Aber seinem pflegebedürftigen Nachbarn Erwin in seinem Rollstuhl schon, vor allem wenn man bedachte, dass die beiden etwas abgelegen am Ortsrand wohnten. Und deshalb machten sich Sepp und Erwin auf den Heimweg zu Fuß beziehungsweise im Rollstuhl. Je durchnässter Erwin wurde, desto mehr schimpfte er auf den armen Sepp. Warum denn Sepp nicht vorausschauender gewesen war und sich so gehen lassen hatte? Schließlich hätte er ja ahnen können, dass Erwin zum Leichentrunk erscheinen würde und Sepp dann seine Pflege und auch den Heimtransport übernehmen »musste«.
Als Wiedergutmachung versprach der begnadete Handwerker, einige Renovierungsarbeiten an Erwins Haus – beziehungsweise Bruchbude – zu übernehmen. Der Sepp ahnte bereits, dass dies vermutlich ausarten würde, aber er war in dieser Nacht einfach nur froh, dass der Erwin endlich mit der Schimpferei aufhörte.
Hells Bells
Die ersten Tage der »ambulanten« Pflege an Sepps Nachbarn Erwin gestalteten sich recht schwierig. Nachdem der Erwin den Sepp während der Arbeit alle zehn Minuten auf dem Handy angerufen hatte, weil er entweder am Verdursten war oder demnächst ganz bestimmt erfrieren würde, wenn Sepp nicht sofort die Heizung aufdrehen würde, beschloss der gutmütige Herr Müller, sich doch ein paar Tage Urlaub zu nehmen. Zu einer richtigen Arbeit, wie Wiggerl sie ihm aufgetragen hatte, kam er unter diesen Umständen sowieso nicht und der Bauhofkapo war deswegen schon wieder einmal saugrantig. Außerdem stand in drei Tagen ohnehin das große Brauchtums-Event »Wolfauslassen« an. Und weil der Sepp auch hier natürlich an vorderster Front mit dabei war, wäre er sowieso demnächst in den »Wolfauslasser-Urlaub« gegangen, so wie jedes Jahr, da konnte er jetzt also auch noch ein paar Tage »Erwin-Urlaub« vorn dranhängen.
Sepps Spontanurlaub kam Erwin sehr entgegen, denn er vergaß natürlich nicht, was ihm sein Nachbar demütig in dieser regnerischen Nacht nach Gretls Leichentrunk versprochen hatte, und pochte vehement auf Einhaltung. Eine entsprechende To-do-Liste fertigte Erwin unverzüglich an. Wie ein König thronte er in seinem vom Sanitätshaus ausgeliehenen Krankenbett im ersten Stock und kommandierte den Feuerwehrkommandanten seit gestern durch die Gegend. In Wahrheit durfte Erwin eigentlich seinen Fuß sogar schon wieder ein wenig belasten, aber das verschwieg er seinen Mitmenschen und vor allem Sepp vorerst lieber noch. Die Krücken hatte Erwin sicherheitshalber gut versteckt. Die volle Aufmerksamkeit zu genießen und zu delegieren, war immer schon Erwins Lieblingsbeschäftigung gewesen, aber er hatte das verblüffende Talent, mit seiner Art bei seinen Mitmenschen immer das zu bekommen, was er wollte, und keiner nahm es ihm wirklich übel.
Читать дальше