Zwischen uns gab es nur ein Tabu: Das Thema Krankheiten. Darüber wurde geschwiegen. Ebenso über die Adressen irgendwelcher medizinischer „Spezialisten“. Wir besaßen auch keine E-Bikes und spielten weder Tennis noch Golf. Stattdessen tauschten wir uns über unsere Forschungen als Privatgelehrte aus und führten jene sokratischen Dialoge fort, die wir Mitte der 80er-Jahre in Rom im Restaurant Al Pompiere begonnen hatten. Vor diesem Hintergrund geistiger Verbundenheit bestimmten wir uns, wie notariell hinterlegt, wechselseitig als Nachlassverwalter. Deshalb bin ich im Besitz der folgenden Aufzeichnungen.
Es gab für uns alte Knaben nicht mehr viel, was wir wirklich ernst nahmen. Wir gehörten jener wertekonservativen Generation an, die allmählich im Aussterben begriffen ist. Unser Interesse an Frauen war erfahrungsgemäß nur noch von einer sanften, selbstironischen Misogynie geprägt. Wir glichen Darstellern in einem alten Film, den man schon hundertmal gesehen hat, den man in- und auswendig kennt, was jedes Mal zutiefst beruhigend wirkt und einen gründlich davon abhält, sein Leben doch noch ändern zu wollen.
Jetzt bin ich allein beim Frühstück und an den Abenden, und gleiche jenen alten Männern, die in dunklen Anzügen irgendwo im Süden auf Bänken sitzen, den Hut ins Gesicht gezogen, die mit ihren Stöcken im Sand scharren und bei mildem Nachmittagslicht langsam durch die Erinnerungen segeln wie durch ein altes Gemälde.
Alte Männer in der späten Sonne haben nicht mehr viel Zeit, um ein wenig Gold aus ihrer eigenen Geschichte zu waschen. Die Erinnerungen zerren an ihrem Gedächtnis wie ein junger Hund und wollen von der Leine gelassen werden. Ihre einzige Hoffnung für die Zukunft ist ein gnädiger Tod, der ihrer Enttäuschung, nicht fertig geworden zu sein mit dem richtigen Leben, zuvorkommt. Das Ungestüme ist schon lange aus ihren Augen gewichen, denn sie haben im Leben gelernt, im rechten Augenblick wegzuschauen. Das macht sie zuversichtlich, das Schlimmste nicht mehr erleben zu müssen, weil sie es bereits hinter sich haben. Noch immer glauben sie, von den alten Zeiten etwas in Pacht zu haben, und immer weiter möchten sie sprechen, wie Kinder, die abends nicht ins Bett wollen. Die in den Kies gezeichneten Kreise gleichen geheimnisvollen Zeichen, die auch diese Alten nicht deuten können, obgleich sie alle etwas mit Vergänglichkeit zu tun haben angesichts des bescheidenen Genusses, den die täglich zager werdende Sonne verspricht. Niemand kennt den Film, der vor dem inneren Auge der einsam schweigenden Männer auf der Parkbank abläuft, und keiner weiß, wo er beginnt und wie er endet.
Aber ich will nicht schweigen, denn ich kann mich mit dem Tod meines besten Freundes und langjährigen Weggefährten nicht abfinden. Zwar habe ich meine eigene Theorie zum Mord an Bruno Ziegler, die ich schon x-fach zu Protokoll gegeben habe, doch mag ich noch so schlüssig argumentieren: Die offiziellen Stellen wollen meine Ansichten nicht teilen. Sie lehnen jedwede Beteiligung der Mafia ab und vertreten stur wie Ochsen die offizielle These, Bayern sei seit vielen Jahren der Spitzenreiter bei der Inneren Sicherheit. Nirgendwo sei es sicherer für die Bürger, zu leben und in Unternehmen zu investieren.
So verkündet es vollmundig die Politik. Wollte man ihr Glauben schenken, so gäbe es weit und breit keine Mafia. Am wenigsten in den Allgäuer Dörfern.
Aber wer glaubt schon der Politik? Sie übersieht die Kleinigkeit, dass auch die Cosa Nostra in den Dörfern entstanden und groß geworden ist.
Auf den folgenden Seiten wird von meinem Freund gewissenhaft berichtet, wie sich langsam und unauffällig, versteckt hinter kleinen, harmlos scheinenden Geschäften die Mafia ausgebreitet und allmählich nach Norden verschoben hat, bis sie in den 80er-Jahren im Allgäu angekommen ist. Es ist die Geschichte einer ebenso verschwiegenen wie erfolgreichen Eroberung.
Diente das Allgäu der Mafia zunächst als erholsames Rückzugsgebiet, so ist es heute eine effiziente Operationsbasis. Eine neue Generation ist jetzt aktiv. Man nennt sie die Geräuschlosen. Sie bomben keine Staatsanwälte mehr in die Luft, sondern sind soziale Aufsteiger, international aufgestellt, fachlich hoch qualifiziert, bis in Regierungskreise hinein bestens vernetzt und in erster Linie bestrebt, keinerlei Aufsehen zu erregen. Wo ihnen das gelingt, sind sie weitaus effizienter als ihre Väter, die noch wild um sich schossen.
Deshalb stimmt ironischerweise zuletzt doch, was die Politik sagt und der sizilianische Schriftsteller Leonardo Sciascia schon in den 80er-Jahren prophezeite: Die Staatsmacht wird zum Schutzschild der Mafia. Nirgendwo ist es für die Mafia sicherer zu leben und in ihre Unternehmen zu investieren.
Non puoi aprire la porta del passato senza farle cigolare , lautet ein altes Sprichwort der Cosa Nostra: Man kann das Tor zur Vergangenheit nicht öffnen, ohne dass es knarrt. Jede Geschichte öffnet ein Fenster in die Vergangenheit, selbst wenn sie in der Gegenwart spielt, aber nicht jede Geschichte muss ein gutes Ende haben. Manche Geschichten haben gar kein Ende, weil sie noch immer andauern. Das könnte auch für diese Aufzeichnungen gelten.
Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle: Mein Name ist Bruno Ziegler.
Ich bin Notar im Ruhestand. Geboren wurde ich kurz nach Kriegsende 1945 in Wertach im Allgäu, seit über fünfzig Jahren lebe ich in München. Meine aktuellen Aufzeichnungen beginnen in einem Hutladen in Milano: Dieser Besuch in der Cappelleria Melegari war lange geplant. So viel Zeit vor meiner Heimreise musste sein! Das Geschäft existiert seit über hundert Jahren. Ein Dorado der Mützen und Hüte in allen Farben, Formen und Größen. Ich war ohnehin schon seit Jahren auf der Suche nach einem geeigneten Hut: weiche, nicht zu große oder zu breite Krempe, dunkelgrau, dezentes schwarzes Band, seidengefüttert. Der Verkäufer, ein feiner älterer Herr mit besten Manieren, tadellos sitzendem Blazer und strengem Windsorknoten, wusste sofort, was ich mir vorstellte. Er taxierte meinen Kopf und nannte mit der Geschmeidigkeit eines Profis meine Größe. Der Venditore legte mir seine Angebote vor und strich ein wenig gönnerhaft mit bleichen femininen Fingern und manikürten Nägeln über den edlen Filz, was ich ihm angesichts der noblen Umgebung, in der sich der Handel vollziehen sollte, durchaus gönnte. Das erste Modell, das ich probierte, saß ein wenig zu stramm, das zweite war mir etwas zu auffällig, beim dritten schien mir die geschwungene Krempe zu amerikanisch. Das Exemplar in der untersten Schachtel jedoch gefiel mir auf Anhieb. Ich probierte das gute Stück an und fühlte mich wohl. Es war zwar kein Borsalino, dafür ein feiner Borghi Lorenzo . Der Hut saß, als trüge ich ihn schon seit Jahren. So muss es sein. Auch der feine Herr hinter der Ladentheke war mit meiner Wahl einverstanden, was ein ironisches Lächeln verriet, das über seinen Mund huschte. Hatte der Verkäufer wirklich soeben Humphrey Bogart gemurmelt? Oder bildete ich mir das nur ein? Ironie, verpackt als Kompliment, ist eine italienische Spezialität. Der Signore verstand sich auf Schmeicheleien, um mir das Bezahlen zu erleichtern. Bei dem Preis hätte mir eigentlich schwindlig werden müssen. Als ich den Laden verließ, merkte ich, dass ich irgendwie anders ging. Mein Schrittmaß hatte sich verändert. Mir war zumute wie nach einem Kinobesuch, der einem den Rücken stärkt und die Gangart verändert. Das kam von dem, was ich da auf dem Kopf trug. Jedes Schaufenster nützte ich, um mich zu überzeugen, dass ich in Wirklichkeit aus einem Film stammte. Erst drei Straßen weiter merkte ich, dass mir ein bekanntes Gesicht folgte. Man spürt so etwas instinktiv.
Der Mann, der mich seit Monza beschattete, war gut gekleidet, um die Vierzig, circa eins achtzig, drahtig und muskulös, wie ich aus den Augenwinkeln feststellen konnte. Er verlor mich – ob absichtlich oder nicht, entzieht sich meiner Kenntnis – zuletzt im Menschengewimmel. Es war nicht schwer, sich zu verlieren. Milano Centrale ist einer der größten und zugleich wichtigsten Bahnhöfe Europas. Seine imposante Erscheinung verdankt er Mussolini. Heute zählt der Hauptbahnhof zu den Grandi Stazioni Italiens. In der Haupthalle herrscht ein schier unüberschaubares Gewusel, man könnte sich tagelang darin aufhalten und Studien betreiben. Doch ich musste zurück nach Hause.
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