Kapitel 8: Ein ernsthafter Vorfall
UM HALB ZEHN UHR an jenem Abend wurden Tom und Sid wie gewöhnlich zu Bette geschickt. Sie sprachen ihr Gebet und Sid war bald eingeschlafen. Tom lag wach und wartete in rastloser Ungeduld. Als er schon meinte, es müsse beinahe Morgen sein, schlug die Uhr zehn – es war rein zum Verzweifeln. Er würde sich im Bette herumgeworfen haben, unaufhörlich von einer Seite zur andern, wie es seine Nerven gebieterisch verlangten, hätte er nicht gefürchtet, Sid dadurch zu wecken. So lag er denn krampfhaft ruhig und starrte hinein in die Finsternis. Allmählich begannen sich in der beinahe greifbaren Stille kleine, kaum zu unterscheidende Geräusche bemerkbar zu machen. Erst drängte sich ihm der Laut der tickenden Uhr auf. Alte Balken krachten geheimnisvoll. Die Treppe knisterte leise. Augenscheinlich waren die Geister munter. Ein taktmäßiges, gedämpftes Schnarchen klang aus Tante Pollys Zimmer. Und jetzt begann auch noch einer Grille ermüdendes Zirpen, das mit Genauigkeit zu lokalisieren kein menschlicher Scharfsinn je imstande ist. Dann machte das unheimliche Ticken einer Totenuhr in der Wand, am Kopfende des Bettes, Tom zusammenschaudern – bedeutete es doch, dass jemands Tage gezählt seien. Nun erhob sich das klagende Geheul eines Hundes in die Nachtluft, dem leiseres Gewinsel aus der Ferne antwortete. Tom lag in reiner Todesangst da. Er war fest überzeugt, dass die Zeit aufgehört, die Ewigkeit begonnen habe. Trotz allem Bemühen, sich wach zu halten, begann er leise einzudämmern. Die Uhr schlug elf, er aber hörte es nicht mehr. Auf einmal tönte mitten in seine noch gestaltlosen Träume hinein das langgezogene, schwermütige Miauen eines Katers. Das Öffnen eines benachbarten Fensters, der Ruf: »Verfluchtes Katzenpack!« und das Zersplittern einer gegen die Mauer geschleuderten leeren Flasche ließ ihn entsetzt und urplötzlich wach in die Höhe fahren. Eine Sekunde später war er angezogen, zum Fenster hinaus und kroch auf allen Vieren auf dem Dache des Vorbaues entlang. Dabei miaute er ein- oder zweimal mit großer Vorsicht, sprang dann auf das Dach des Holzschuppens und von dort zu Boden. Huckleberry Finn mit seiner toten Katze erwartete ihn. Die Jungen entfernten sich und verschwanden im Dunkel. Eine halbe Stunde später wateten sie durch das hohe Gras des Friedhofs.
Es war ein Friedhof nach der altmodischen Art des Westens und lag auf einem Hügel, etwa eine halbe Stunde vom Städtchen entfernt. Ihn umgrenzte ein wackeliger Bretterzaun, der sich abwechselnd bald nach innen, bald nach aussen lehnte, nirgends aber gerade stand. Gras und Unkraut wucherten üppig über den ganzen Begräbnisplatz hin. Die alten Gräber waren sämtlich eingesunken. Kein Grabstein war zu erblicken. Wurmstichige Bretter schwankten statt dessen lose und schief auf den verfallenen Hügeln, schienen nach einer Stütze zu suchen und keine zu finden. »Zum Gedächtnis an – so – und so« war einst auf ihnen zu lesen gewesen, jetzt aber war’s nicht mehr zu entziffern, auf den meisten wenigstens nicht, selbst im hellsten Tageslicht.
Ein schwacher Windzug ächzte in den Bäumen; Tom war’s, als müsste es das Seufzen der Toten sein, die sich über die Störung beklagten. Die Jungen sprachen nur wenig und nur im Flüsterton, denn Zeit und Ort, sowie das feierliche, tiefe Schweigen versetzte sie in gedrückte Stimmung. Bald fanden sie den frisch aufgeworfenen Haufen, den sie suchten und verschanzten sich in dem Schutze von drei großen Ulmen, die in einer dichten Gruppe, wenige Fuss vom Grabe entfernt, wuchsen.
Dort warteten sie schweigend eine Zeitlang, die ihnen eine Ewigkeit schien. Das Geschrei einer fernen Eule war alles, was die Totenstille unterbrach. Toms Gedanken wurden niederdrückend, er musste ein Gespräch erzwingen um jeden Preis. So flüsterte er denn:
»Huckchen, meinst du, dass die toten Leute da drunten etwas dagegen haben, dass wir hier sind?«
Worauf Huckleberry zurückflüsterte:
»Möcht’s selber wissen. Aber gelt, ‘s ist furchtbar feierlich, nicht?«
»Weiss Gott, das ist’s – uff!«
Lange Pause, während die Jungen noch einmal innerlich der Sache nachgrübelten. Wieder wisperte Tom:
»Du, Huckchen, glaubst du, dass der alte Williams uns hören kann?«
»Natürlich kann er, wenigstens sein Geist.«
Tom, nach einer Pause:
»Hätt’ ich doch Herr Williams gesagt! Ich hab’s aber nicht bös gemeint. Jedermann nennt ihn doch den alten Williams.«
»Ja, man kann nicht vorsichtig genug sein in dem, was man über die Leute da drunten sagt, Tom.«
Dies war ein warnender Dämpfer und das Gespräch erstarb von neuem. Plötzlich ergriff Tom den Arm seines Kameraden:
»Scht!«
»Was gibt’s, Tom?« Und die zwei umklammerten sich gegenseitig, atemlos, wild pochenden Herzens.
»Scht! Da ist’s wieder. Hast du denn nichts gehört?«
»Ich –«
»Da, noch einmal! Jetzt musst du’s doch hören!«
»Herr Gott, Tom, da kommen sie! Gewiss und wahrhaftig, da kommen die Teufel! Was sollen wir anfangen?«
»Ich weiss nicht. Ob sie uns sehen?«
»O, Tom, Tom, die sehen im Dunkeln, grad wie die Katzen. Ach, wär ich doch nicht hierher gegangen.«
»Na, alter Waschlappen, fürcht dich doch nicht so! Ich glaub nicht, dass die sich viel um uns kümmern. Wir tun ja niemand nichts Böses. Wenn wir uns ganz mucksmäuschenstill verhalten, merken sie vielleicht gar nicht, dass wir da sind.«
»Ich will mich ja nicht fürchten, Tom, aber ich – ich – ach Gott, ich klapper nur so in meiner Haut.«
»Horch doch!«
Die Jungen steckten die Köpfe zusammen und atmeten kaum. Ein unterdrücktes Geräusch wie von Stimmen ertönte vom anderen Ende des Friedhofes.
»Sieh, sieh dort!« hauchte Tom. »Was ist das?«
»’s ist Hexenfeuer. Ach, Tom, das ist grausig.«
Einige undeutlich nebelhafte Gestalten näherten sich in dem Dunkel. Sie schwangen eine altmodische Blechlaterne, die den Boden mit unzähligen kleinen Lichtfleckchen besäte. Alsbald flüstert Huck schaudernd:
»Da, das sind die Teufel, gewiss und wahrhaftig! Und gleich drei auf einmal! Herr Gott, Tom, wir sind hin! Kannst du beten?«
»Ich will’s mal probieren. Aber fürcht du dich doch nicht so, die tun uns sicher nichts. Wart, ich bet! ›Müde bin ich, geh zur Ruh, schließ die beiden Augen zu, Vater lass –‹«
»Scht!«
»Was gibt’s, Huck?«
»’s sind Menschen! Einer davon mal gewiss! Die eine Stimme kenn ich, die gehört dem alten Muff Potter.«
»Nee, wahrhaftig?«
»Na, ich wett mein Seel. Rühr du dich aber nicht, der merkt nichts von uns. Ist natürlich wieder voll, wie gewöhnlich – verflixter alter Saufaus!«
»Schon gut, ich muckse mich nicht. Da, sie bleiben stehen, können’s nicht finden. Jetzt geht’s wieder vorwärts, – es wird heiss – kalt – ganz kalt – jetzt lau – da warm – puh, nun wird’s aber heiss – heisser, glühend! Scht – da sind sie! Huck, ich kenn noch einen, ‘s ist der Indianer-Joe.«
»Der mörderische Lump! Teufel wären mir fast lieber! Auf was die wohl aus sind?«
Letztere Worte waren bloss noch gehaucht, denn die drei Männer hatten nun das Grab erreicht und standen kaum ein paar Fuss von dem Versteck der Jungen entfernt.
»Hier ist’s!« sagte die dritte Stimme; der, welcher gesprochen hatte, hielt die Laterne in die Höhe und zeigte im Strahl des Lichtes das Antlitz des jungen Doktors Robinson.
Potter und der Indianer-Joe schleppten eine Trage mit einem Seil und ein paar Schaufeln drauf. Sie setzten ihre Last nieder und begannen das Grab zu öffnen. Der Doktor stellte die Laterne zu Häupten desselben, ging und setzte sich, mit dem Rücken gegen einen der Ulmenbäume gelehnt. Er war so dicht bei den Jungen, dass diese ihn hätten berühren können.
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