Wir stehen auf und räumen das Geschirr in die Spülmaschine. Yana sagt nichts, als ich Skye in ihr Zimmer folge.
Fahles Mondlicht fällt durchs Fenster.
»Willst du, dass ich gehe?«, frage ich leise in die Stille hinein.
Skye schüttelt den Kopf. »Ich wäre heute Nacht nicht gern allein.«
Ich nicke. »Willst du reden?«
Skye lässt sich auf Yanas schmales Bett fallen. »Ich will nur noch schlafen, um ehrlich zu sein.« Sie schlägt die Decke zurück und ein alberner Teil von mir wird auf einmal nervös. »Es ist vielleicht ein bisschen eng«, sagt sie. »Aber bestimmt bequemer als Manuels Sofa.«
»Darauf würde ich wetten.«
Ich erwische mich dabei, wie ich mir verlegen den Nacken kratze. Wie alt bist du, vierzehn? In Jeans und T-Shirt lege ich mich neben sie. Heute Nacht werde ich kein Auge zubekommen …
Skye breitet die dünne Decke über uns. »Alles in Ordnung?«, fragt sie grinsend.
Ich stütze mich auf meinen Ellenbogen. »Ich fürchte, es gibt etwas, das du über mich wissen solltest.«
»Du schnarchst!«
»Ich rede im Schlaf«, sage ich gleichzeitig.
Ein Klopfen unterbricht unseren Lachanfall. »Was auch immer ihr da drinnen macht, macht es leiser«, klingt Yanas Stimme gedämpft durch die Tür. »Ich brauche meinen Schlaf, wenn ich euch dabei helfen soll, diese verdammten Fanatiker aus dem Weißen Haus zu kicken.« Ihre Schritte entfernen sich.
»Sie hat recht«, seufzt Skye.
Ich will gerade die Nachttischlampe ausknipsen, als mein Blick auf den schwarzen MP3-Player daneben fällt.
»Der gehört Ocean.« Skye schlägt sich gegen die Stirn. »Mist, ich habe ganz vergessen, ihm zu sagen, dass er ihn hier liegen gelassen hat! Er hängt total daran.« Der Anblick des kleinen Kastens schnürt mir die Luft ab. »Du solltest die Musik mal hören. So schön ruhig. Perfekt zum Einschlafen.«
Ich nicke, mein Blick noch immer auf den MP3-Player fixiert. Dad hatte genau so einen. Er trug ihn überall mit sich herum, nicht nur um Musik zu hören, sondern auch, um Ideen für Artikel jederzeit aufsprechen zu können. Notizbücher hat er gehasst. Die Erinnerungen überfallen mich wie aus dem Nichts. Dad, wie er mit mir Eis essen geht. Dad, wie er meiner Mutter Blumen mitbringt. Dad, wie er alte Jazz-Platten auflegt und durch das Haus tanzt.
Ich räuspere mich. »Welchen Song soll ich anmachen?«
Skye nimmt mir den Player aus der Hand und legt ihn zurück auf den Nachttisch. »Ich glaube, heute Nacht brauche ich keine Musik, um einzuschlafen.« Sie lehnt sich zu mir, doch dann hält sie inne. »Kann es sein, dass du reden willst?«
»Es ist nichts.« Ich schüttle den Kopf.
Skye sieht mich an, dann wickelt sie sich aus der Decke und steht auf. »Ich bin in fünf Minuten wieder da. Wenn du dich entschieden hast, schlafen zu gehen, ist das in Ordnung. Wenn nicht …« Sie lächelt. »Wenn nicht, bin ich hier, um dir zuzuhören.«
Ich starre aus dem Fenster in die Dunkelheit und versuche, über Octagon nachzudenken. Über den Check, den wir beschaffen müssen, wenn wir Zugang zu Chloes neuster Gleichschaltungstechnik haben wollen. Über den fehlenden Beweis. Über das Misstrauen in Rekas Stimme. Über alles – außer meinen Vater .
Als Skye mit zwei dampfenden Tassen in den Händen zurück ins Zimmer kommt, brummt mein Kopf. »Du schläfst nicht«, stellt sie fest und reicht mir einen der Becher. »Kakao. Das Geheimnis sind echte Schokoladenstücke.«
Sie klettert zurück ins Bett und pustet in ihre Tasse.
»Er hat damals beschlossen, uns zu verlassen«, sage ich nach einer Weile. »Ich würde gern beschließen können, ihn zu vergessen.«
»Deinen Dad?«, fragt Skye.
Ich nicke.
»Das ist hart.« Sie beißt sich auf die Lippe. Ich weiß, dass sie an Beth denkt – dass sie traurig und wütend ist auf ihre Mutter, die sie verlassen hat, genau wie mein Vater mich. »Wann ist er gegangen?«, fragt Skye vorsichtig.
»Vor fünf Jahren. Ironischerweise ausgerechnet am 14. Juni – wir hatten quasi unseren ganz privaten großen Skandal. Ich habe nach ihm gesucht, weißt du.« Nach Jahren des Schweigens stürzen die Worte plötzlich nur so aus mir heraus. »Aber er war nirgends zu finden. Und Mum … Mum wollte nicht über ihn sprechen.« Ich erinnere mich an den verschlossenen Gesichtsausdruck meiner Mutter, wenn ich Dad erwähnte. »Irgendwann hörte ich auf, Fragen zu stellen. Aber ich kann einfach nicht verstehen, wie Dad alles wegwerfen konnte. Ein ganzes Leben, von heute auf morgen zerstört!«
Skye stellt ihre Tasse auf den Nachttisch und legt den Arm um mich. Ein paar Minuten lang sitzen wir so da und starren aus dem Fenster in die Nacht.
»Jetzt weiß ich, warum ich mich dir von Anfang an so nah gefühlt habe«, sagt sie schließlich. »Das gleiche familiäre Trauma durchlebt zu haben, muss ja verbinden.«
»Vielleicht solltest du Psychologin werden, wenn das hier vorbei ist.«
»Und mir den ganzen Tag die Probleme anderer Leute anhören?« Sie lacht. »Davon habe ich selbst genug.«
»Aber du bist gut darin, Menschen zu lesen«, entgegne ich.
»Wirklich?« Skyes Stimme klingt auf einmal rau wie Schmirgelpapier. »Zumindest bei zweien habe ich mich doch wohl gründlich verschätzt.«
»Wie wäre es«, murmele ich in ihr Haar, »wenn wir unsere Eltern und den ganzen Rest vergessen. Nur für heute Nacht.« Skye wirft mir einen Blick zu. »Zum Schlafen!«, füge ich hinzu und spüre, wie mir die Röte prickelnd in die Wangen schießt.
Sie grinst. »Du kannst jetzt aufhören, nervös zu sein.« Ihr Kuss schmeckt nach Kakao. »Danke, dass du mir von deinem Dad erzählt hast«, flüstert sie. »Keine Geheimnisse mehr?«
»Keine Geheimnisse mehr.«
Ich streiche über ihr Haar, während ich beobachte, wie ihre Atemzüge langsam tiefer werden. Keine Geheimnisse mehr . Ich beiße die Zähne zusammen. Ich muss Skye die Wahrheit über das Diktiergerät sagen, hier und jetzt. Aber dann rutscht mein Blick zu der zarten Haut über ihren Schlüsselbeinen. Die feuerroten Striemen ziehen sich wie Lavaströme durch frisch gefallenen Schnee. Ich denke an die Panik, die ich verspürt habe, als ich Skye in Angelas brennender Wohnung liegen sah, an meine rasende Hilflosigkeit, während sie bewusstlos war. Ich kann Skye nicht beichten, was geschehen ist . Ich darf ihr Leben nicht durch eine kopflose Beweisjagd in Gefahr bringen, nur weil ich sie brauche!
Andererseits ist sie hier im Reservat auch nicht sicher. Was immer ich tue, ich kann dich nicht schützen …
Doch dann wird mir klar, dass das nicht wahr ist. »Ist Hunter noch bei dir?« Rekas Stimme klingt in meinen Ohren. Ich bin es, dem sie nicht traut. Weil sie mehr über meine Mutter weiß, als sie zugibt, und weil sie glaubt, dass ich wie Mum bin. Ich schließe die Augen. Wenn ich fort gehe, dann ist Skye hier in Sicherheit. Reka wird alles tun, um sie zu schützen, das hat Yana selbst gesagt.
Langsam löse ich mich aus Skyes Umarmung. Wirfst du jetzt nicht auch alles weg? Ich schlucke. Nein. Ich bin nicht wie mein Vater, ich verlasse Skye nicht. Aber ich werde auch nicht noch einmal riskieren, sie zu verlieren .
Ich weiß, dass ich verschlafen habe, als Sonnenstrahlen mein Gesicht kitzeln. Ich strecke mich und drehe mich langsam zur Seite.
»Guten Morgen«, sage ich lächelnd.
So gut wie in dieser Nacht habe ich seit Wochen nicht mehr geschlafen. Ich öffne die Augen. Die Matratze neben mir ist leer. Hunter wollte mich wohl schlafen lassen . Ich sehe die beiden Kakaotassen auf dem Nachttisch stehen, deren Inhalt mittlerweile kalt geworden ist, und spüre Hunters Lippen wieder auf meinen. Rasch öffne ich meine Haare, kämme sie und flechte sie in einen Zopf, damit ich nicht länger aussehe wie die Hexe von Eastwick. Dann gehe ich in die Küche.
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