Ich öffne die Glastür und dränge mich an den Tischen vorbei, an denen Leute die Zeitung lesen, ein frühes Mittagessen oder ein spätes Frühstück zu sich nehmen.
»Solltest du nicht in der Schule sein?«, frage ich, als ich zu Ocean an den Tresen trete.
»Chemieklausur.« Er grinst. »Lohnt sich nicht.« Er deutet auf einen Barhocker.
»Ich kann nicht bleiben«, sage ich abwehrend. »Hör zu, Ocean, ich muss dringend mit Hunter sprechen.« Ich erwische mich dabei, wie ich nervös mit den Fingern auf den Tresen trommle. »Kannst du mir erklären, wie ich zum Cottage deiner Großeltern komme?«
Ocean nickt. »Ich bring dich gleich hin, okay? Ich warte nur noch auf meine Pancakes.« Er sieht mich an. »Ich habe über deine Freundin nachgedacht. Wenn du wirklich herausfinden willst, wo sie ist, gibt es vielleicht eine Möglichkeit.«
Ich setze mich auf den Hocker. »Welche?«
Ocean hält mir das Display seines in die Jahre gekommenen Handys entgegen, von dem mir eine Anzeige entgegenstrahlt.
»Neueste Technologie, neuestes System, bester Komfort?«, lese ich stirnrunzelnd. Das Bild unter dem Text ist zu verpixelt, um mehr als ein graues Rechteck in der Hand einer lachenden Frau zu erkennen.
»Die Teile sind der Wahnsinn. Erst gestern rausgekommen und trotzdem schon überall ausverkauft, sogar in den Onlineshops.« Er deutet auf eine Zeile in einer Sprechblase: So weißt du immer, wo deine Freunde sich gerade befinden! »Das hier meine ich. Eine Art Radiusangabe soll dir anzeigen, wer in der Nähe ist. Auf den Farmen werden bestimmt ab und an Ausflüge in die Stadt angeboten. Wenn Luce sich so eins besorgt, könntest du sie garantiert ausfindig machen.«
Ich betrachte Oceans unbekümmertes Gesicht. Er glaubt tatsächlich, die Radarfunktion von irgendeinem neuen Handy würde meine Probleme lösen .
»Dich findet man im Zweifel wohl immer in einem TechMania-Laden, nicht wahr?«, sage ich.
»Erwischt.« Ocean grinst.
Ich versuche, meine Enttäuschung zu verbergen. Vielleicht ist es gut, dass Ocean trotz meines Ausbruchs gestern Abend glaubt, Luce und Reilly seien auf der »Farm« in Sicherheit und hätten die Möglichkeit, sich das neuste Smartphone zu besorgen.
»Na, was kann ich dir bringen? Omelette, French Toast oder vielleicht einen Milchshake?«, reißt mich eine warme Stimme aus meinen Gedanken. Das Schild auf der karierten Bluse der Frau verrät, dass Mona sowohl der Name des Cafés als auch der seiner Besitzerin ist. Sie stellt einen Teller Pancakes vor Ocean ab und lächelt mich fragend an.
»Nichts, ich bin eigentlich auf dem Sprung«, sage ich, als Chiefs Bellen neue Besucher ankündigt. Eine Frau mit zwei Kindern, Zwillingen, wie es scheint, setzt sich an einen runden Tisch nicht weit entfernt von unseren Hockern.
»Mummy versucht mal, Daddy anzurufen«, erklärt sie. »Wollt ihr Daddy erzählen, dass wir bei echten Indianern gelandet sind?«
Oceans Lächeln verschwindet.
»Wir würden es vorziehen, als Native Americans bezeichnet zu werden, wenn Sie den Namen unseres Stammes schon nicht wissen«, sagt Mona freundlich, als sie der Frau die Speisekarte reicht. »Und übrigens: Es gibt über 500 indigene Stämme allein auf dem Gebiet der ehemaligen USA. Sie alle einfach als Indianer zu bezeichnen, obwohl sich unsere Sprache, Religion und Kultur grundsätzlich voneinander unterscheiden, ist nicht nur falsch, sondern auch ziemlich unsensibel.«
Die Frau starrt Mona mit offenem Mund hinterher.
»Eine Gläserne Nation ohne Rassismus, dass ich nicht lache.« Mona schüttelt den Kopf, als sie an uns vorbei hinter den Tresen geht. »Unglaublich, oder?«
Ich erwidere nichts. Im Sonnenlicht, das durch das Fester fällt, blitzt ein silbernes Armband auf, das sich unauffällig wie eine Uhr um das Handgelenk der Frau legt. Auf einmal spüre ich wieder die Kühle des Metalls, als Hunter mir den Check an meinem ersten Abend im Zentrum umlegte. Fühle es förmlich brennen bei dem Gedanken daran, dass sich in dem harmlos wirkenden Gerät Kameras und Mikrofone verbergen, die nur darauf warten, jeden untreuen, regierungsfeindlichen Atemzug zu verraten.
»Wow!«, sagt Ocean zwischen zwei Bissen. »Es sieht in echt noch viel beeindruckender aus.«
Ich beobachte, wie die Frau das Metallarmband mit einer Streichbewegung ihres Zeigefingers dazu bringt, sich bis zur Mitte ihres Unterarms auszubreiten. Mit gerunzelter Stirn tippt sie auf dem Display herum.
»Hallo!« Die Frau winkt in Richtung des Tresens. »Funktioniert Ihr Internet nicht?«
Als Mona sie nicht beachtet, steht die Frau auf und stellt sich neben uns an die Theke. »Ich kann meinen Mann nicht erreichen, weder über Nachrichtenfunktionen noch über Mobilfunk. Und an meinem Check liegt das wohl nicht, der ist brandneu!« Anklagend streckt sie Mona ihren rechten Arm entgegen.
Hitze schießt in mein Gesicht und ich springe auf. Ocean, der bewundernd auf den Check der Frau gestarrt hat, protestiert, als ich ihn mit mir aus dem Café schleife und ihm stumm bedeute, die Klappe zu halten. Wenn er meinen Namen ausspricht, ist alles vorbei …
»Was sollte das?«, fragt er, als wir auf der Straße stehen.
Ich lasse ihn los und beiße mir auf die Lippe. Wie kann es sein, dass die Checks auf einmal frei verkäuflich sind? Im Zentrum hieß es doch, sie seien noch in der Testphase! Vor meinem inneren Auge sehe ich wieder die Tonspuren im Kontrollraum. Den winzigen Mikrofonen des Checks entgeht kein kritisches Wort, kein Lachen über den falschen Witz. Wenn erwachsene Untreue bis jetzt in Sicherheit waren – nun sind sie es nicht mehr . Ein Schauer läuft mir über den Rücken. Die Checks werden ein geeintes Land schaffen. Ein Land, in dem es keinen offenen Widerspruch gegen die Kristallisierer mehr gibt. Ein Land ohne Regierungsgegner. Zumindest ohne hörbare.
Jemand rempelt mich an, und plötzlich wird mir bewusst, wie viele Menschen den Bürgersteig entlangeilen oder Monas Café betreten. Wer von ihnen trägt schon einen Check? Mein Herz hämmert in meiner Brust, als ich mir vorstelle, wie die winzigen versteckten Kameralinsen mein Gesicht einfangen. Ich muss von hier verschwinden .
»Hey!« Ocean zieht einen hechelnden Chief hinter sich her, der mich fröhlich begrüßt, als ob ich ihn nicht beinahe an einer Straßenlaterne vergessen hätte. »Meinst du nicht, du schuldest mir so langsam mal eine Erklärung?«
Ich versuche, die aufwallende Hitze in mir zu ignorieren. Panik hilft mir jetzt auch nicht weiter. »Bring mich zum Cottage. Ich muss mit Hunter sprechen, und zwar jetzt gleich.«
Ocean sieht mich an. Dann deutet er nach links, ohne eine weitere Frage zu stellen.
Ich werfe meine Jacke über den alten Hutständer in der Ecke der Garage, dann lasse ich mich neben Yana auf die Couch fallen. Der Schmuckanhänger . Ich habe kaum geschlafen, weil ich an nichts anderes denken konnte als an den Anhänger, der gestern Nacht unter dem Ärmel von Rekas Kittel hervorblitzte, als sie die Arme über den Kopf hob und sich streckte. Es ist derselbe, dessen bin ich mir sicher. Silber, gegossen in die Form eines winzigen Buches, verziert mit einem smaragdgrünen Stein. Dad hat ihn bei einem Juwelier in Manhattan anfertigen lassen und ihn Mum geschenkt, als sie die Stelle als Chefredakteurin bei der Times bekam.
Ich schließe die Augen und sehe wieder vor mir, wie Reka am Tag nach unserer Ankunft in Las Almas eine neue Schicht Salbe auf Skyes Schulter aufträgt. Die Sonne ließ das Silber ihres Armbands schimmern, und eine Sekunde lang glaubte ich da schon, den Anhänger wiederzuerkennen. Doch ich hielt es für unmöglich, schließlich war das Schmuckstück eine Sonderanfertigung – für immer verloren, genau wie seine Trägerin. Aber seit der vergangenen Nacht besteht kein Zweifel mehr. Ich denke daran, wie der Smaragd das Licht der Deckenlampe einfing. Einen Moment lang habe ich geglaubt, Mum wieder in die Augen zu sehen …
Читать дальше