Um die Reden der beiden großen Impresarios herum wirkt das Flügelfest wie ein Klassentreffen. Mittags gibt es Kabeljau oder Rinderroulade, als Getränke Kaffee oder Bier, als Gesprächsthemen den Niedergang Deutschlands oder die Schuld Angela Merkels an eben diesem Niedergang. In der Essensschlange reden ein paar Flügelisten über den bald eintrudelnden Höcke. »Der Führer kommt zu spät«, sagt ein Mann. Alle lachen. Ein Scherz, natürlich. »Ich mag den Kalbitz eh lieber«, sagt sein Nebenmann.
Einer der Organisatoren des Flügelfestes ist Enrico Komning, AfD-Bundestagspolitiker und »Alter Herr« der Greifswalder Burschenschaft Rugia, die selbst für die Verhältnisse der weit rechts stehenden Burschenschaftsszene sehr weit rechts steht – ähnlich wie der Flügel in der AfD. So wird das Fest auch damit begonnen und beendet, dass burschenschaftlich bis volkstümlich kostümierte junge Männer Fahnen rein- und auch wieder raustragen, begleitet von Marschmusik. Komning selbst versucht sich in seiner Rede an einer Einordnung: »Man tritt dem Flügel nicht bei. Der Flügel ist kein festgelegter Meinungskorridor, und der Flügel verpflichtet niemanden zu etwas. Wir sind nicht das, was man uns anzuhängen versucht. Wir sind keine Extremisten. Wir stehen auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.« Applaus.
Es hat auf Rügen viel Ärger um das Flügelfest im Hotel Arkona gegeben. Dabei ist es nicht das erste AfD-Treffen an diesem Ort. Schon seit mehr als vier Jahren ist die Partei hier willkommen. Die Hoteldirektorin Birte Löhr hält sogar eine kleine Rede, bezeichnet das Fest – eine geschlossene Veranstaltung – als »gelebte Demokratie« und wird mit stehenden Ovationen begrüßt und verabschiedet.
Der gesamte Tag in Binz, wenn man ihn mit der AfD verbringt, vermittelt das unangenehme Gefühl von dem, was kommen mag, wenn diese Leute einmal drankommen. Auch wenn die Gewaltfantasien oder rechtsradikalen Sprüche immer mit einer notdürftigen Aura von Humor kaschiert werden, zweifelt keiner der Anwesenden daran, wie sie gemeint sind. Die Sicherheitsleute sind so einschlägig tätowiert, dass jeder, der sich schon mal mit Neonazi-Strukturen auseinandergesetzt hat, die Männer mit den kräftigen Oberarmen sofort zuordnen kann. Über allem schwebt der Dunst einer längst untergegangen geglaubten Zeit.
Lange nach dem offiziellen Teil trinken und reden die Flügelisten im benachbarten Hotel Rugard, wo sie auch absteigen. Auch dieses Haus wird von Birte Löhr geführt. Zwischen den Hotels stehen zierliche weiße Villen, Binzer Bäderarchitektur, sie erinnert an Kolonialbauten. Fünf Kilometer weiter zieht sich die heute runderneuerte ehemalige Kraft-durch-Freude-Ferienanlage Prora an der Küste entlang.
Das Hotel Rugard wirkt von innen so, als habe RTL II »Titanic« neu verfilmt. Kitschig goldverzierte Wände, auch mal holzvertäfelt, die Geländer wie Nachbauten einer imaginierten Schiffsreling. Und in dieser Umgebung baut sich irgendwann am Abend ein offensichtlich deutscher Küchenmitarbeiter vor einem offenbar migrantischen, schmächtigen Küchenjungen auf, pflaumt ihn an, während der mit jeder Silbe kleiner wird: »Hast du keine Beine?! Du sollst laufen, nicht den Aufzug benutzen! Oder willst du etwa nach Hause gehen?«
Einige Meter weiter sitzen junge Männer an der Bar bei Longdrinks und Nüsschen. Und, war’s ein gutes Fest? »Ach, alles nur Gelaber«, sagt einer der Typen. »Man müsste lieber was machen.«
Nein, gemacht wird an diesem Tag beim Flügelfest zwar nichts, aber ausgiebig darüber geredet, was zu tun sei. Nicht nur abends danach, sondern natürlich auch schon tagsüber, in der Mittagspause: »Nur weil man für Deutschland ist, ist man doch nicht gleich ein Nazi. Die haben einfach alle eine Macke!«, findet ein junger Teilnehmer. Er trägt einen feinen Dreiteiler, einen Seitenscheitel mit aufwendig geschwungener Tolle und hält mit seiner Gesinnung nicht hinterm Berg.
Er bezeichnet sich selbst als »Künstler«. Der Grund für ihn, zur AfD zu halten, sei sein Nachbar. »Obwohl er einen Hirntumor hatte und jetzt halbseitig gelähmt ist, wird der noch vom Arbeitsamt tyrannisiert. Der soll weiterarbeiten gehen, und die, die nach Deutschland kommen, bekommen einfach Geld vom Staat, ohne arbeiten zu müssen. Das ist doch krank!« Nach Meinung des jungen Mannes würden es nur ausländische Künstler in deutsche Galerien schaffen. Er habe noch nie ausstellen dürfen. Das frustriert ihn. »Ich habe einen sehr hohen IQ«, sagt er. »Daher habe ich mich auch intensiv mit dem Buch von Björn Höcke beschäftigt. Und ich bin zum Schluss gekommen: Höcke ist kein Nazi.«
Von den Veranstaltungsflyern jedenfalls lächelt der stahlblauäugige Höcke, dazu das Zitat: »Nur die Vielfalt macht unsere Partei groß, nur die Einigkeit macht uns stark!« Sogar ein so linkes Wort wie Vielfalt will Höcke jetzt besetzen. Die Flügelisten aber wollen genau eines nicht: Vielfalt.
Und dann, mit Verspätung, ist er da. Sein Gang zur Bühne wird von stehenden Ovationen und »Höcke«-Rufen begleitet. Ein flachsblonder Junge schwenkt stolz eine selbst mitgebrachte Sachsen-Fahne, während das Mikrofon am Rednerpult höher gestellt wird. Auf die Begründung, dass der nächste Redner ja größer sei, ruft jemand aus dem Saal: »Höcke ist der Größte!«
Ein paar Leute machen Fotos oder filmen. Höcke bittet sie, das zu unterlassen. Aber nicht, »weil ich vorhabe, heute eine neuerliche Provokation zu setzen«. Er möchte einfach reden »wie im engsten Familienkreis«. Doch dann redet er wie in einem Proseminar. Höcke zitiert diverse Soziologen, möchte laut eigener Aussage das »philosophisch-historisch-politische Tiefenbewusstsein« seiner Zuhörer erweitern. Und so kompliziert, wie das klingt, kommt es auch an: nicht.
Höcke erklärt lange eine Theorie des englischen Publizisten David Goodhart, nach der die Weltbevölkerung in zwei Meta-Klassen zerfalle, die globalisierten »Anywheres« und die dagebliebenen »Somewheres«. Die Anywheres würden »Latto Macchiato« in Sankt Moritz schlürfen, bevor sie nach London und New York weiterjetten. Die »Somewheres« lebten dagegen zumeist auf dem Land, sie können oder wollen nicht weg. Laut Goodhart spalten diese konträren Lebensentwürfe ganze Gesellschaften. Höcke betont ausgiebig, dass Goodhart ja links sei. Der Applaus ist höflich.
»Wir sind mit und nach David Goodhart die Somewheres«, schlussfolgert Höcke. Nach seiner Auffassung würden die Somewheres, »die Vergessenen, die Geschmähten, die Verlachten, die Verachteten der Gesellschaft«, in Deutschland 80 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Darin sehe Höcke das tatsächliche Potenzial seiner Partei. Daher werde auch die AfD »die neue vitale Volkspartei Gesamtdeutschlands« werden.
Seine Gesprächsangebote an andere Parteien nach der Landtagswahl in Thüringen bezeichnet Höcke als »taktische Spiele«. »Wir haben die Union gelockt und wir haben dort zu einem Gärungsprozess beigetragen.« Bizarr wird Höckes Rede, als er darüber referiert, warum er kein Faschist sein könne, wie böse Zungen immer wieder behaupten würden. Er sei schließlich ein »großer Freund eines der südlichsten deutschen Kulturräume – nämlich Südtirols«.
Höcke spricht über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der »massive Regierungspropaganda« betreibe, und über staatliche Hilfen in Höhe von 40 Millionen Euro für »notleidende Tageszeitungen«. Aus dem Saal ruft jemand: »Heil!« Höcke fragt nach: »Bitte?« Jemand antwortet: »Bundesminister Heil!« – mit starker Betonung auf dem Heil. »Ja, Bundesminister Heil war’s gewesen«, sagt Höcke amüsiert.
Doch verglichen mit Kalbitz wirkt Höcke müde, verkopft. Vielleicht war die Anreise aus Thüringen zu lang, vielleicht auch die Theorien der linken, rechten und zentrierten Soziologen zu schwer. Der Kern seines Problems aber dürfte darin liegen, dass Höcke jenen gefallen will, die er verachtet – also dem linksliberalen Establishment. Das hat er mit Thilo Sarrazin gemein. Offensichtlich hat niemand in dem Saal des Arkona-Hotels von jenen Denkern gehört, die Höcke bespricht, noch glaubt hier irgendwer, dass es so etwas geben sollte: Denker. Linke. Linke Denker.
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