»Ja, mich zu befreien!« Moritz konnte die Silhouette eines sehr schlaksigen und hochgewachsenen Mannes erkennen, aber nicht viel mehr, denn noch immer hielt er sich in den Schatten verborgen.
»Warum sollte ich? Ich kenne dich nicht, Junge. Wer weiß, vielleicht ist es besser, wenn du da drin bleibst.«
»Sie können mich doch nicht einfach hier hängen lassen!«
»Nicht? Na, dann pass mal auf!« Mit einem gewaltigen Satz sprang der Fremde von dannen.
»Das glaube ich nicht!« Abermals kämpfte Moritz mit dem Netz. Ohne Erfolg. Die Maschen gaben keinen Millimeter nach.
»So klappt das nie, mein Junge.«
Moritz sah sich um. Der Mann stand diesmal auf der anderen Seite im Schatten.
»Dann helfen Sie mir!«, rief er und begann, die Seile mit den Zähnen zu bearbeiten.
»Erst erzählst du mir, was du eigentlich vorhattest«, sagte der Fremde. Etwas glitzerte in seinem Gesicht, eine Brille mit kreisrunden Gläsern.
»Ich will dieses Monster fangen!«
Ein Lachen. »Etwa damit?« Sein Gegenüber hielt die selbstgebaute Bola ins Mondlicht.
»Ja, und es hätte fast geklappt, wenn Sie nicht dazwischengekommen wären, mein Herr!«
»Tut mir leid, dass ich den Großwildjäger bei seiner Arbeit gestört habe«, sagte der Fremde und reckte einen länglichen Zylinder aus Messing ins Licht. »Kommt bestimmt nicht wieder vor.«
Der Zylinder teilte sich der Länge nach und ein Schwert schnellte aus der Spitze hervor. Die Klinge surrte durch die Luft und schnitt das Netz entzwei.
Moritz schlug hart auf dem Schrägdach auf. Sein Schädel dröhnte, als er aufsah. Vor ihm trat der seltsamste Mann ins Licht, den er je gesehen hatte: Er war so lang wie ein Reisigbesen und hatte eine ebensolche Frisur. Wild und ungebändigt standen seine rostroten Locken vom Kopf ab, auch wenn er versucht hatte, sie mit einem Band am Hinterkopf zurückzubinden. Doch das Aufsehenerregendste waren die Farben. Wo Moritz ein Bild in schwarz und weiß abgab, war der Samtrock dieses Mannes eine Farbexplosion von weinrot bis violett. Darüber trug er eine silbrig schimmernde Fellweste. Auf seiner Nase saß ein Kneifer, hinter dessen Gläsern zwei smaragdgrüne Iriden funkelten.
»Lichtholm ist der werte Name. Edgar van Lichtholm. Monster- und Dämonenjäger«, sagte er und streckte Moritz eine Hand entgegen. »Schön, dich fast kennengelernt zu haben.«
Moritz rieb sich den Brummschädel. »Was heißt hier fast?«
Edgar zwinkerte. »Es heißt, dass ich weiter muss.«
»Aber Sie sind Monsterjäger!«
»Monster- und Dämonenjäger«, korrigierte Edgar mit erhobenem Zeigefinger.
»Richtig! Dann können Sie mir helfen!«
Zuerst lachte Edgar herzhaft, dann schlug seine Stimmung um. »Nein. Ich kann nicht.« Er wandte sich ab.
»Aber Sie müssen!« Moritz rappelte sich auf. »Dieses Ding, dieses Monstrum, hat meine Schwester entführt!«
Edgar sah ihn an. Sein Ausdruck war eine Mischung aus Mitleid und Zweifel. »Nun, das ist sicherlich überaus …«, er suchte nach den richtigen Worten, »… tragisch.«
»Ja!«, rief Moritz. So einen begriffsstutzigen Menschen hatte er noch nie erlebt. »Genau deswegen brauche ich einen Monsterjäger!«
»Monster- und Dämonenjäger«, sagte Edgar und rückte seinen Kneifer zurecht. »Ich kann dir nicht helfen, mein Junge.«
»Warum nicht?!« Moritz’ Stimme wurde schriller. »Sie sind Monsterjäger, bitteschön, da war gerade ein riesiges Monster, es hat ein Mädchen entführt und meine Schwester auch! Warum tun Sie nichts?!«
»Keine Zeit.« Edgar wandte sich ab und ging zum Rand des Daches hinüber.
Jetzt konnte Moritz den langen Käfig sehen, der auf seinen Rücken geschnallt war. Darin befand sich ein schuppiges Etwas von der Größe einer Katze. Es spitzte seine Ohren und bleckte die kleinen Raffzähne, während es Moritz mit handtellergroßen Glupschaugen anstarrte. Das seltsame Geschöpf öffnete sein Maul und produzierte ein Geräusch, wie es Moritz noch nie zuvor gehört hatte. Es klang wie eine Mischung aus Hecheln und Glucksen, doch irgendwie war es auch keins von beidem.
»Mein Gott, was ist das?«
»Was meinst du?« Edgar sah über seine Schulter. »Ach das? Das ist ein Boogelbie.«
Moritz hatte Mühe gleichzeitig zu begreifen, was er sah und hörte. »Was tut es da?«
»Es roottelt«, sagte Edgar knapp.
»Es roo-ttelt?«
»Ja, nein, jetzt nicht mehr. Jetzt wuppert es.«
Moritz blinzelte. Das merkwürdige Geräusch hatte sich tatsächlich in etwas verändert, das man als zufriedenes Wuppern bezeichnen konnte. Der Boogelbie starrte ihn an und leckte sich hingebungsvoll über beide Augäpfel. Moritz wurde schwindelig.
»Hör mal, mein Junge«, sagte Edgar, »es tut mir aufrichtig leid. Ich wollte nicht dich einfangen, ich wollte das Wesen.«
»Dann fangen Sie es ein!«, rief Moritz. »Ich kann Ihnen helfen, ich –«
»Nein.« Edgar hatte kurz die Stimme erhoben, aber dann ließ er den Kopf hängen und murmelte etwas, das wie Es ist nicht das Richtige klang.
Irgendwo in der Ferne wurden Stimmen laut. Was genau gerufen wurde, konnte Moritz nicht verstehen, denn die Worte verloren sich in den verwinkelten Gassen. Doch eine Frau weinte und schrie. Schrie aus Angst um ihre Tochter.
Moritz’ Knie zitterten.
»Ich wünsche dir viel Glück«, sagte Edgar leise.
Er straffte die silbrige Weste und streckte sein rechtes Bein aus, bereit zum Sprung. Moritz wurde übel. Die Welt rückte von ihm fort und seine Beine knickten ein. Er drohte vom Schrägdach zu rutschen.
Plötzlich packte ihn jemand am Arm. Edgar. »Was hast du? Bist du verletzt?«
Moritz keuchte. »Nein, ich habe nur seit ein paar Tagen nicht mehr richtig geschlafen. Es geht … gleich … wieder …«, murmelte er und versuchte sich hochzustemmen. Seine Knie protestierten und ihm wurde schwarz vor Augen.
»Teufel auch«, hörte er Edgar murmeln.
Was dann geschah, bekam Moritz nur noch bruchstückhaft mit. Er spürte, wie Edgar nach ihm griff und ihn sich über die Schulter warf. Dann sprangen sie vom Dach.
Es fühlte sich an, als ob er fliegen würde. Seine Gedanken tauchten in einen schwarzen Tunnel ein, an dessen Ende seine Schwester wartete.
Konstanze.
*****
Hauptmann Nathaniel stand vor dem Podest der Komtesse. Hinter ihm, in den Schatten der Schiffsmesse, zuckte das Ungetüm vor Unruhe. Gehetzt blickte es sich um.
»Ich kann es mir nicht erklären, Durchlaucht!« Nathaniel rang die Hände. »Aber wir wurden verfolgt.«
Stille. Die Komtesse blieb reglos.
Es war unerträglich.
»Ich schlage vor, wir ziehen weiter in die nächste Stadt. Wir sind hier nicht sicher.«
»Dann ist es Eure Aufgabe, für Sicherheit zu sorgen, Hauptmann!«, donnerten ihm die Stimmen entgegen. Unwillkürlich öffnete Nathaniel den Mund, doch die Komtesse kam ihm zuvor: »Bringt sie zu mir.«
Nichts geschah.
»Worauf wartet Ihr?«
Zögernd verneigte sich Nathaniel und trat beiseite. Er gab den Blick frei auf das rastlose Ungetüm in der Finsternis.
Nach einer Berührung seines Amuletts öffnete das Untier eine Pranke und mit einem Schubs wurde ein kleines blondes Mädchen ins Licht gestoßen. Wie im Traum stand es da, schwankend im Takt eines stummen Wiegenliedes.
»Komm zu mir.«
»Konstanze … nein … Konstanze!«
Moritz schlug die Augen auf. Goldenes Licht hüllte ihn ein, warm und weich. Er blinzelte. Allmählich kam er zur Besinnung und die Welt nahm wieder Gestalt an. Er befand sich in einem fremden Raum, umringt von Kerzen, wie in einem Traum. Von irgendwoher kam ein gedämpftes Klicken.
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