(Mt 13,32)
Mit dem Blick auf diese Stelle des Evangeliums darf ich wohl nicht nur die Kirche als Ganzes, sondern auch die Kirche von Innsbruck im Besonderen mit einem Baum vergleichen. Es ist ein uralter Baum in unserer Heimat Tirol, unter den ich mich da niederlasse, fast so alt wie jene berühmten, gewaltigen Lärchen im Ultental, für die die Wissenschaftler ein Alter von beinahe 1800 Jahren errechnet haben sollen.
Da sind 25 Jahre Diözesangeschichte natürlich nichts. Aber es sei mir erlaubt, mich zu diesem Anlass unter diesem Baum hinzustrecken und über dieses merkwürdige Gebilde nachzudenken, den alten Stamm mit der rissigen Rinde, die ausladenden Äste und das doch immer wieder sich erneuernde Grün des religiösen Lebens, durch das die Sonne schimmert.
Romantisches Träumen erlaubt dieser Baum nicht. An seiner Krone zerren die Wetter und Winde der Zeit, und beides fällt von ihm herunter: Früchte und dürre Äste.
Aber es tut gut, die Hektik des kirchlichen Alltags mit dem verwirrenden Vielerlei des Aktuellen zu unterbrechen, und einmal dem lebendigen Ganzen nachzusinnen, das dieser breitausladende Baum des Gottesreiches darstellt, die tragenden Äste hinaufzuverfolgen, wie sie sich verteilen, verzweigen und überschneiden und schließlich doch irgendwo eine gemeinsame Gestalt finden, wie es bei jedem Baume ist.
Es geht mir nicht um Analyse und exakten Überblick. Mit den Instrumenten der Statistik und der Sonde des Soziologen vermag ich nicht besonders gut umzugehen. Es gelingt mir nicht, distanziert-exakt prüfend hinaufzuschauen in diese Lebendigkeit der Strukturen, die man sieht. Es geht mir auch um das, was man nicht sieht.
Natürlich müsste man sich darüber klar werden, an welchen Ästen die Früchte zukunftsträchtig schwerer hängen, oder wo ein Ast in einen Schattenwinkel hineinwächst, in dem nicht viel gedeihen kann. Wer einen Baum betrachtet, muss freilich alle Ungeduld ablegen. Bäume wachsen nicht im Zeitraffertempo der Macher. Vielleicht hat Christus für sein Reich absichtlich so viele Gleichnisse der Geduld gewählt: sprossende Bäume und reifende Saaten, nächtelang rudernde Fischer und wartende Jungfrauen mit den Lampen … Und noch eines hat der Herr vom Baum wie vom Weinstock betont: dass die Vielfalt eine geheimnisvolle Einheit bildet, dass sich alles aus einem Stamme verzweigt, und sein Leben aus Wurzeln erhält, die in der Tiefe verborgen liegen.
Aber nun hinein in das Geäst und Gezweig des kirchlichen Lebens!
Der erste Ast, den ich verfolge, wächst aus der innersten Mitte empor – und bleibt in der Mitte: Es ist der Ast der Heiligen Feier , der Ast der Mysterien, der Eucharistie, der Sakramente. Es war die besondere Sorge des letzten Konzils, sich um das strömende Leben und Blühen dieses Astes zu kümmern. Wie steht es bei uns mit diesem Ast? Wenn ich zum Beispiel an den Sonntag denke, dann gibt es da natürlich auch Entfremdungserscheinungen, Verständnisverlust und zeitgemäße Unverbindlichkeit. Aber im Ganzen gesehen ist dieser Ast doch in dem Menschenalter, das ich überblicke, um eine Welt lebendiger geworden, verjüngt und wesentlicher. Ob ich jetzt an die leise Intimität einer Roratemesse in der Hochschulgemeinde denke, oder an irgendeinen Firmgottesdienst im kleinen Bergdorf, an die große Liturgie mit dem Papst am Bergisel oder an die Osterzeremonie in den Pfarrgemeinden – es hat sich viel getan an diesem Ast. Und dass bei einem derartigen Vitalitätsschub der eine oder andere wilde Trieb ausschießt, ist mehr Naturereignis als Katastrophe.
Die große Linde im Schlosspark von Ambras bei Innsbruck
Im schlimmsten Fall muss halt das Amt auch einmal die Baumschere in die Hand nehmen … Aber wer hier nur Fehlentwicklungen zu sehen glaubt und nur den Verlust der Formen von gestern beklagt, der schaut den Baum weder mit den Augen des Glaubens noch mit denen der Liebe an.
Und doch bleibt mir viel zu wünschen und zu beten, wenn ich zu diesem Ast hinaufschaue. Dass wir die rechte Innigkeit finden und nicht in Formalismen steckenbleiben; dass wir auf alle Rücksicht nehmen, auch auf jene, die im Raum des Heiligen das Experiment nicht so lieben; dass wir die rechte Sprache der Zeit in der Verkündigung finden; dass auch die Kunst der Zeit in den Raum des Heiligen eindringe; dass in allem die Ehrfurcht dominiere, vom kleinen Ministranten bis zum Verwalter der Geheimnisse.
Auf einen Seitenzweig der Sakramente schaue ich mit Sorge: Er scheint sich dem Schatten und der Verkümmerung zuzuwenden und Blätterschwund zu erleiden: Es geht um das Sakrament der Umkehr. Es mag vieles daran schuld sein – von einseitigen Akzenten in der Kirche bis zu den billigen Mechanismen einer Verdrängungsgesellschaft, die die Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld überflüssig zu machen scheinen – gleichviel, die Kirche kann sich das Baumsterben auf dieser Seite nicht leisten. Die Früchte dieses Zweiges sind für die Kirche unverzichtbar.
Und weiter geht mein Blick zum hundertfach verzweigten Ast der Gemeinden . Wenn ich auch noch nicht überall gewesen bin, in den letzten acht Jahren bin ich auf diesem Ast viel herumgeklettert. Es sind gute Erinnerungen, die da aufsteigen: Abende mit Pfarrgemeinderäten und Pfarrkirchenräten, mit Frauen und Männern, Jugendlichen und Senioren, Menschen aus allen Schichten, Berufen und Altersstufen. Und ich weiß, wie viel Mitsorge und Verantwortung, Einsatz und Ideen, Mühen und Aktionen, Bazare und Renovierungen, Krankenbesuche und Kontakte, Fröhlichkeit und Gebet von diesen Gremien ausgehen.
Der Ast war in früheren Zeiten nicht immer so lebendig. In ihm liegt viel Hoffnung. Und ich schicke ein Gebet hinauf, dass er lebendig bleibe, gerade dann, wenn nicht mehr alle Amselnester auf ihm besetzt sind, will sagen, wenn nicht in jedem Widum mehr ein Priester sein kann …
Und dann steigt da ein dritter Ast empor, der seine Zweige überall hinsendet: Es ist der Ast der überdiözesanen und diözesanen Gemeinschaften .
Es ist ein dankbarer Blick, den ich auf die Orden werfe, die weiblichen und die männlichen. Durch sie lebt in der Baumkrone der Ortskirche der Geist und die Spiritualität der ganz Großen der Kirche weiter: Augustinus und Benedikt, Norbert und Franziskus, Ignatius und Vinzenz, Theresia und Alfons, die sieben Väter des Servitenordens, Don Bosco und Dominikus, Bernhard und Johannes vom Kreuz, Maria Ward und Franz von Sales und viele, viele andere – durch ihre Gefolgsleute wird die Kirchengeschichte des geistlichen Lebens in der Heimat zur lebendigen Gegenwart. Und immer wieder wachsen neue Formen solcher Gemeinschaften. Und trotz aller verschiedenen Akzente gibt es einen beglückenden Geist des Miteinander. Der hilfesuchende Bischof weiß ein Lied davon zu singen.
Und weiters breitet dieser Ast die Seitenäste der verschiedensten Organisationen, in- und außerhalb der Katholischen Aktion, aus. Man möge mir das Durcheinander verzeihen – ein Blick in eine große, grüne Baumkrone ist nun einmal nicht so wie der in eine geordnete Kartei. Da arbeiten also Katholische Jugend und Jungschar, Männer- und Frauenbewegung, Familienverband und Lehrerverein, Kindergärtnerinnen und Diözesansportverband, Arbeiterjugend und KAB, Verband christlicher Unternehmer und Mittelschullehrer, Ritterorden und Dritte-Welt-Gruppen, Opus Dei und Drittordensgemeinschaften, Bundesheerseelsorge und Gastarbeiterbetreuung, Pfadfinder und Studentenverbindungen, Gen-Bewegung und Fokolare, Malteser und Bruderschaften, Krippenvereine und Chöre, Vinzenzgemeinschaften und Gruppen, die sich in Rocca di Papa zusammengetan haben, Kolping und Tourismusseelsorge … Hoffentlich nimmt es mir niemand übel, wenn ein Zweig verdeckt war. Der Überblick ist gar nicht einfach. Aber das alles ist gewachsen, weil eben das Leben so bunt ist und die Notwendigkeiten und Bedürfnisse so vielfältig sind.
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