Mein Leben war so offensichtlich verschwendet gewesen, dass seine Worte mich fast beleidigten.
»Warte mal«, sagte ich. »Ich glaube, du hast den falschen Matt erwischt. Ich bin der Musiker.«
»Ich habe dein Leben seit deiner Geburt verfolgt. Mir ist klar, dass du mir nicht glaubst, aber dein Leben ist für viele andere Seelen, die inkarnieren möchten, beispielhaft.«
Als ich ihn so reden hörte, fragte ich mich, ob Engel noch ganz bei Trost sind. Aber seltsamerweise wirkte er keineswegs verrückt.
»Lass uns einen Handel machen«, sagte er. »Du gehst dein Leben durch und sagst mir, was du deiner Meinung nach richtig und was du falsch gemacht hast. Und dann zeigen wir deine Auflistung den himmlischen Führern. Für alles, was du richtig bewertest, erfülle ich dir in deinem nächsten Leben einen Wunsch.«
»Was meinst du mit meinem ›nächsten Leben‹? Ich möchte hier nicht noch einmal leben.«
»Du musst dich ja auch nicht gleich zu einer weiteren Inkarnation entschließen. Und du musst auch nicht gleich den Himmel aufsuchen. Wir können in den Tunnel gehen und dort eine Weile bleiben, während du mir deine Version deines Lebens erzählst.«
»Wieso können wir nicht einfach hier bleiben?«
»Das könnten wir, aber der Tunnel wird nicht ewig geöffnet sein. Und ich möchte nicht hier zurückbleiben, wenn er sich wieder schließt. Ohne einen Körper auf der Erde zu bleiben, empfiehlt sich nicht.«
Aus seinem Ton hörte ich heraus, dass ich wohl besser daran tat, seinen Rat zu befolgen.
Der Tunnel ist schwer zu beschreiben. Er war geräumig, hatte aber keine klar umrissenen Dimensionen, denn er bestand aus Licht. Es war ein sehr intensives weißes Licht, das jedoch nicht blendete.
Im Tunnel fühlte ich mich sogar noch leichter. Ehrlich gesagt fühlte ich mich dort letztlich sogar ganz wohl.
»Möchtest du dich setzen?« Jeremiah deutete auf einige Sofas (sie bestanden ebenfalls aus Licht), die zufällig genau dieselbe Form hatten wie die bei mir zu Hause. Ich machte es mir auf einem davon bequem.
»Also gut, ich höre dir zu. Ich kenne dein Leben zwar in- und auswendig, aber ich möchte deine Version hören. Das wird sicher interessant …«
Die selbstgefällige Vertraulichkeit, die Jeremiah an den Tag legte, begann allmählich zu nerven, aber irgendetwas in mir empfahl mir, seinen Wünschen nachzukommen, also willigte ich ein.
»Ich würde mein Leben lieber aufschreiben. Das würde mir leichter fallen, denn …«
Bevor ich den Satz beenden konnte, tauchte ein Schreibstift aus Licht in meiner Hand auf. Und zu meiner Verblüffung saß ich jetzt an einem Schreibtisch, auf dem Papier lag – alles ebenfalls aus Licht.
»Gut so?«, fragte Jeremiah.
Ich nickte.
»Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst. Und wundere dich nicht, wenn du in einem Rutsch dein ganzes Leben erklären kannst. Sobald man die Enge der Erde verlässt, erhält man nach und nach Zugang zur seelischen Klarheit.«
Da ich nicht ganz verstand, wovon er redete, achtete ich einfach nicht weiter auf ihn und begann damit, einen Rückblick auf mein Leben – mein verpfuschtes Leben – zu verfassen. Ich glaubte nicht so recht, irgendjemand könne mich davon überzeugen, dass ich mein Leben lang richtige Entscheidungen getroffen hätte, aber ich beschloss, es trotzdem schriftlich festzuhalten. Und ich war gespannt darauf, die Version der anderen zu hören. Am besten war es wohl, ein Plus-Zeichen (+) neben die guten Dinge und ein Minus-Zeichen (-) neben die schlechten zu setzen.
Und so ließ ich die siebenundzwanzig Jahre meines Lebens innerlich Revue passieren.
2
Mein katastrophales Leben
Mein Vater, der Sportlehrer war, hatte sich immer gewünscht, dass ich ein Spitzensportler werde. Aber auf Gedeih und Verderb – denn beruflich geht das ja in den seltensten Fällen gut – hatte ich mich immer nur für Musik interessiert.
Meine Mutter sagte, sie habe stets gewusst, dass ich einmal Sänger werden würde. Als ich im Alter von dreizehn Monaten Elvis Presley singen hörte, stand ich in meinen Kinderbettchen auf, als wäre ich auf einer Bühne, klammerte mich am Schutzgeländer fest und versuchte, näher ans Radio heranzukommen. Offenbar sah meine Mutter damals das erste Mal, dass mich etwas wirklich faszinierte.
Meistens kam es ihr nämlich so vor, als befände ich mich in einer anderen Welt.
Von diesem Tag an sorgten meine Eltern stets dafür, dass mich Musik umgab, besonders wenn sie wollten, dass ich »in die reale Welt zurückkehrte«, wie sie es ausdrückten. Aber mein Kopf schwebte fast immer in den Wolken, und als ich sechs Jahre alt war, wurde bei mir Autismus diagnostiziert.
Nach dieser Diagnose beschäftigten sich meine Eltern weit mehr als früher mit mir, und darunter hatte meine kleine Schwester Claire zu leiden. Meine Mutter besorgte spezielles Unterrichtsmaterial, um mir möglichst jeden Tag neue Dinge beizubringen, aber fast alles, was ich gelernt hatte, vergaß ich sofort wieder.
Seinerseits versuchte mein Vater, mir das Einzige näher zu bringen, von dem er wirklich etwas verstand: Sport. Obwohl ich höchstens ein mittelmäßiger Sportler war, bemühte er sich jahrelang, mich zu einem Berufssportler auszubilden.
Im Sommer vor meinem Wechsel zu einer weiterführenden Schule ermahnte mich mein Vater, ich müsse als Sohn eines Sportlehrers den anderen Schülern ein gutes Vorbild sein. Aber ich war das genaue Gegenteil, denn ich brachte überhaupt kein Interesse für das auf, was die Lehrer sagten. (Hier trug ich auf meiner Liste ein Minus-Zeichen ein, weil ich gar nicht erst versucht hatte, mir Wissen anzueignen.)
Trotz der hartnäckigen Bemühungen meiner Eltern versagte ich in fast allen Fächern. Mit vierzehn Jahren wechselte ich zu einer Schule, die auf musische Fächer spezialisiert war. Dort fiel mir das Lernen leichter. Ich hatte Unterricht bei einem fantastischen Musiklehrer, der mir das Gitarrenspiel beibrachte.
Meine Eltern waren überglücklich darüber, dass ich endlich in eine Schule ging, von der ich nicht mehr weglaufen wollte. Dort lernte ich nicht nur, ein Instrument zu spielen, sondern auch eigene Stücke zu komponieren. Und da meine Lieder offenbar gut ankamen, beschäftigte ich mich während meiner Jugendjahre vor allem mit dem Komponieren. (An dieser Stelle setzte ich auf meiner Liste ein Plus-Zeichen, da ich gelernt hatte, ein Instrument zu beherrschen und Lieder zu komponieren.)
Ich wohnte in Liverpool, der Stadt der Beatles, und glaubte, es könne mit ein wenig Talent nicht so schwierig sein, Erfolg zu haben. Und wirklich brachte ich mit zwanzig Jahren mein erstes Solo-Album heraus. Doch zugleich zerstörte ich dadurch das Leben von zwei Menschen.
Kerry lernte ich in einer der örtlichen Szenekneipen kennen, in denen ich erstmals öffentlich mit meiner Gitarre auftrat. Als ich erfuhr, dass ihr Vater Duncan Fierce war, der Musikproduzent, der die Band Oasis entdeckt hatte, setzte ich alles daran, Kerry für mich zu gewinnen. (Ein Minus-Zeichen, da ich mit Kerry nur das Ziel verband, sie für meine Zwecke einzuspannen.)
Kerry verliebte sich sofort in mich. Drei Tage nach unserer ersten Begegnung ließen wir uns die gleichen Piercings machen – als Zeichen dafür, dass wir immer zusammenbleiben würden. Ich hätte ehrlich sein und ihr sagen sollen, dass ich mich mehr für ihren Vater als für sie interessierte, das ist mir bewusst. Aber einen solchen Musikproduzenten wie Duncan Fierce an meiner Seite zu haben, betrachtete ich als einmalige Chance. (Ein Minus, da ich Kerry etwas vortäuschte, das ich nicht empfand.)
Ich würde mir ja gern vormachen, dass Duncan mir nicht vorgeschlagen hätte, ein Album aufzunehmen, wäre ihm an mir nicht irgendein Potenzial aufgefallen. Doch in Wahrheit schlug er mir das erst vor, als Kerry ein Kind von mir erwartete. (Ein Minus, weil ich nicht für Verhütung gesorgt hatte.) Er verpasste mir sogar den Künstlernamen »Matt Kerr«, um mich daran zu erinnern, dass ich die Plattenproduktion allein Kerry verdankte.
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