„Das ist ein Wunder-Weihnachtsbaum“, sagt Juliane schnell.
„Wohl eher ein Wunder, dass es jemanden gibt, der ihn gekauft hat“, sagt die Mutter und blickt strafend ihren Mann an.
Da kommt Großmutter Lina ins Zimmer und beginnt zu lachen. „Mein Gott, seit Jahren hab’ ich nicht mehr ein solch’ wunderbares Bäumchen gesehen. Das wird sicher der prächtigste Weihnachtsbaum, den wir jemals hatten“, juchzt sie. „Ich hole mal einen schönen Topf aus dem Keller. Da kleben wir goldene Sterne drauf, dann kommt das Bäumchen rein. Komm Juli, es gibt noch viel zu tun, bevor der Weihnachtsmann an die Tür klopft.“
Jetzt schnauft die Mutter durch die Nase, aber dann dreht sie sich um, geht in die Küche und kümmert sich wieder um die Plätzchen. Der Vater stellt den Baumschmuck bereit, und Juliane holt das goldene Bastelpapier und beginnt Sterne auszuschneiden.
Das Bäumchen steckt noch in dem alten Eimer. Der Vater hat ihn im Flur abgestellt. Natürlich ist Juliane furchtbar neugierig, was es mit der Fee noch auf sich hat. Sie setzt sich zum Basteln in den Flur und flüstert dabei: „Hallo, hallo, bist du noch da?“
„Natürlich! Ich danke dir sehr. Wir, das Bäumchen und ich, werden euch ein goldenes Weihnachtsfest bereiten.“
„Warum bist du denn nicht im Wald geblieben, als das Bäumchen geholt wurde?“ Juliane ist neugierig.
Nun erzählt Alba, dass jeder Tannenbaum, der einmal zur Weihnachtszeit leuchten soll, eine Fee hat, die für ihn sorgt und ihn am Weihnachtsabend zum Leuchten bringt. „Manchmal holen die Menschen einen Baum zu früh aus dem Wald“, erzählt sie. „Es wäre so schön, wenn mein Bäumchen noch ein paar Jahre in die Erde zurückkönnte. Die Wurzeln sind ja noch dran.“
Juliane hat nun genug Sterne ausgeschnitten. „Ich muss zur Großmutter. Wir sehen uns später noch“. Sie springt auf und verschwindet.
Wie in jedem Jahr ist Juliane furchtbar aufgeregt. Sie sitzt an ihrem Schreibtisch und blättert in einem Buch, als die Mutter endlich die Tür öffnet und sie ins Wohnzimmer holt. Der große Augenblick ist da. Feierliche Weihnachtsmusik ertönt, die Kerzen brennen und der Weihnachtsbaum steht vor dem Fenster in einem roten Topf mit goldenen Sternen und strahlt heller als jeder Stern am Himmel.
„Er sieht so groß und festlich aus“, flüstert die Mutter.
Juliane lächelt glücklich und zwinkert Alba zu, die auf der Christbaumspitze sitzt und ab und zu ihren Feenstaub ins Zimmer pustet. So hüllt sie alles in goldenes Zauber-Licht. „Und im Frühling setzen wir das Bäumchen in Großmutters Garten“, lächelt Juliane. Großmutter Lina nickt zufrieden. Der Vater hat eine kleine Träne im Auge.
„Danke, lieber Wunder-Weihnachtsbaum“, denkt die Mutter.
*
Elva hatte heute ihre Oma besucht. Dafür musste sie mit Mama und Papa fast zwei Stunden mit dem Auto fahren. Zurück hatte es auch noch einmal zwei Stunden gedauert. Das war ganz schön anstrengend für Elva, denn am Morgen war sie natürlich ausgeschlafen und freute sich darauf, ihre Oma wiederzusehen. Auf dem Heimweg schlief sie ein bisschen im Auto ein, so verging die Zeit viel schneller. Im Auto war es gemütlich und ruckelte so schön, außerdem waren ja Mama und Papa da, deshalb hatte Elva auch keine Angst vor bösen Träumen. In ihrem Zimmer, wenn sie so allein in ihrem Bett lag, dann kribbelte es manchmal in ihrem Bauch. Das passierte immer, wenn es irgendwo quietschte oder ein Schatten im Zimmer auftauchte. Das war so unheimlich, dass das Kribbeln immer größer wurde. Sie zog dann die Bettdecke über die Nase und zwinkerte in die Dunkelheit. Obwohl es gar nicht richtig dunkel war, denn es leuchtete immer eine kleine Lampe auf ihrem Nachttisch. Aber wenn man Angst hat, dann ist es eben dunkel und überall werden aus Schatten richtig fiese Monster!
Das hatte Elva auch heute ihrer Oma erzählt und die war sofort aufgestanden und hatte etwas aus dem Schubfach ihrer Kommode geholt. „Nun kann dir nichts mehr passieren“, hatte Oma verständnisvoll geschmunzelt und einen wunderschönen Weihnachtsengel in Elvas Hand gelegt.
„Ist der nur für Weihnachten?“, hatte sie wissen wollen, doch Oma hatte den Kopf geschüttelt.
„Die Engel sind immer da.“
Nun hielt Elva ihren Weihnachtsengel in der Hand und überlegte, wo er wohl am besten auf sie aufpassen könnte. Ihr Zimmer war zurzeit ganz festlich geschmückt mit Weihnachtsbildern und einer Schneekugel, die Morgen Kinder wird’s was geben spielen konnte, wenn man an einem Rädchen drehte. Außerdem stand eine kleine Krippe auf dem Tisch und goldene Sterne hingen von der Decke herab. Am Fenster stand eine kleine Laterne, in der eine künstliche Kerze wie echt flackerte.
„Das ist ein schöner Platz“, sagte Elva und hielt den Engel in die Höhe. Er hatte ein weißes Kleidchen an und seine Flügel waren golden. Sie hatten die gleiche Farbe wie sein Haar, das ihm in langen Locken bis zur Hüfte reichte. Für einen Moment glaubte sie, der Engel hätte ihr zugenickt, aber dann lachte sie nur und lief zum Fenster. Vorsichtig setzte sie den Engel neben die Laterne und drehte ihn so, dass er zu ihrem Bett sehen konnte, aber auch zum Mondschein, der heute besonders hell ins Zimmer schien.
„Das ist der Weihnachtsmond“, flüsterte Mama andächtig, als sie ins Zimmer trat, „er ist heute Nacht besonders hell.“
„Was ist ein Weihnachtsmond?“, wollte Elva wissen.
„Wenn in der Weihnachtszeit der Mond ganz rund zu sehen ist …“
„Der Vollmond“, unterbrach Elva.
„Genau“, nickte Mama, „und der Traum, den du in dieser Nacht träumst, wird in Erfüllung gehen.“
Nun wollte Elva gar nicht mehr ins Bett gehen, denn sie fürchtete sich davor, etwas besonders Schlimmes oder Gruseliges zu träumen.
„Alles ist gut. Gute Nacht, mein Schatz.“ Mit diesen Worten küsste Mama Elvas Stirn und ging aus dem Zimmer. Die Tür hatte sie nur angelehnt, sodass ein schwacher Lichtschein zu sehen war. Natürlich spendete auch die kleine Lampe auf ihren Nachttisch ein bisschen Licht, aber nicht viel. Erst als der Weihnachtsmond am Nachthimmel so gewandert war, dass er in ihr Zimmer schien, wurde es heller. Elva blickte zum Fenster hinüber, wo unbeweglich Omas Engel saß.
„Pass gut auf mich auf“, flüsterte sie ihm zu, aber vorsichtshalber entschied sie sich, heute nicht einzuschlafen. Sie wollte auf keinen Fall etwas träumen, was sie vielleicht gar nicht haben wollte. Einmal hatte Elva von einem riesigen Zotteltier mit spitzen Zähnen geträumt, das sie durch die Straßen gejagt hatte. Dieses Wesen wollte sie auf keinen Fall wiedertreffen. Zum Schluss würde es vielleicht noch in ihr Zimmer einziehen und mit ihren Sachen spielen. Undenkbar!
Wenn man so gemütlich im kuscheligen Bett lag, dann hatte man manchmal das Gefühl, dass die Nacht viel länger dauerte, als man gedacht hatte. So ging es Elva jetzt! Die Müdigkeit schlich in ihren Körper und ihre Augenlider fühlten sich immer schwerer an. Sie spürte, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis sie einschlief, deshalb setzte sie sich noch einmal aufrecht hin und starrte den Weihnachtsmond an. Der Engel saß neben der Laterne und blickte Elva freundlich an.
„Wer hat dich umgedreht?“, fragte Elva erstaunt. „Du kannst ja den Mond gar nicht mehr sehen.“
Der Engel räusperte sich leise und warf einen flüchtigen Blick nach hinten. „Ich kenne den Mond gut. Er ist nicht böse, wenn ich ihm den Rücken zudrehe.“
Elva bekam ganz große Augen. Ihre Müdigkeit war verschwunden. „Du kennst den Mond?“
„Ja“, kicherte der Engel und setzte sich so, dass er mit seinen Beinen hin und her wippen konnte, „der Vollmond ist doch schon sehr alt – so wie ich.“
„Aber“, staunte Elva, „das ist nicht nur der Vollmond. Das ist …“
Читать дальше