Damals sprach der Philosoph Theodor W. Adorno von der Notwendigkeit einer Entbarbarisierung der Schulen. Denn Europa habe es nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs verpasst, Nationalismus, Intoleranz und Kulturchauvinismus zu überwinden. Er plädierte für eine wertfreie Schule, die allen dieselbe Möglichkeit verschaffe, sich zu entfalten. Ich habe mich später in meiner Tätigkeit als Kantonsschullehrer sehr für eine Schule engagiert, die diese Spaltung für die Ausländer der zweiten Generation verhindert, die es ihnen erlaubt, unverkrampft in beiden Kulturen zu Hause zu sein. Damals ging es unter anderem um einige Unterrichtsstunden in der Muttersprache im Stundenplan der offiziellen Primarschulen, als Anerkennung des Rechts auf kulturelle Gleichberechtigung. Es war ein Anfang. Und auch wenn sich seither viel getan hat, zweifle ich, ob wir auf der politischen Bühne wirklich viel weiter gekommen sind. Denn im Kern geht es doch darum, von den ausländischen Mitbürgern nicht nur zu verlangen, sich zu integrieren, sondern dies auch im Geiste unserer Verfassung zu tun, die gerade die kulturelle Vielfalt zum Maßstab der Gesellschaft macht. Dann sprechen wir nicht mehr von einem Ausländer-, sondern von einem Minderheitenproblem mit ganz anderen Lösungsansätzen. Dazu zählt unter anderem auch die Teilnahme an der Entscheidungsfindung, im Klartext: Es geht um die Bürgerrechte. Sie müssen das Ziel der Integration sein. Integration bedeutet für mich deshalb, diese Bürgerrechte nicht nur zu kennen, sondern sie auch auszuüben. Voraussetzung dafür ist es, sich mit der Politik seiner neuen Heimat praktisch auseinanderzusetzen. Eine wahre Integration kann sich nicht nur auf theoretische Kenntnisse elementarer Gepflogenheiten oder der Landessprache alleine beschränken. Bürgerrechte bedingen auch die Ausübung der Bürgerpflichten.
Ich habe den Schweizer Pass 1973 schließlich doch noch erhalten. Es war für mich auch aus einem ganz anderen Grund eine vitale Frage: Da mein griechischer Pass aus Schikane der Diktatoren seit Jahren nicht mehr verlängert wurde, konnte ich erst jetzt wieder frei reisen. Ich lebe nun gleichzeitig in zwei Welten und in zwei Kulturen: in Griechenland, wo ich geboren bin, wo meine Verwandten leben, und in der Schweiz, dem Land, das mich in kritischer Zeit aufgenommen und mir dieses zweite Leben ermöglicht hat. Es ist nicht unbedingt immer einfach – aber ich möchte keine dieser zwei Welten missen.«
Argyris Sfountouris, geboren 1940 in Distomo, Griechenland, überlebte mit seinen drei Schwestern und den Großeltern als Vierjähriger das Massaker einer Einheit der deutschen Waffen-SS in seinem Heimatdorf, bei dem seine Eltern und viele Verwandte ermordet wurden. 1949 wurde er in die Schweiz ins Kinderdorf Pestalozzi in Trogen aufgenommen, er erwarb die Maturität, wurde später Physiklehrer und Entwicklungshelfer. Er schrieb Gedichte, Essays und Zeitungsartikel und übersetzte moderne griechische Lyrik ins Deutsche. 1994, zum 50. Jahrestag des Massakers, organisierte er eine internationale »Tagung für den Frieden« in Delphi. Später reichte er mit seinen Schwestern verschiedene Klagen in Deutschland ein zur Entschädigung der Opfer und löste damit eine bis heute andauernde Debatte über Kriegsschuld und Verantwortung aus.
Stefan Haupt im Dokumentarfilm Ein Lied für Argyris (2006) und Patric Seibel im Buch Ich bleibe immer der vierjährige Junge von damals (2016) haben seine Lebensgeschichte erzählt.
Shlomo Graber
»Es gab nur die Zwangsarbeit, den Tag und die Nacht. Und den Hunger«
Die Aula des Gymnasiums am Münsterplatz ist bis auf den letzten Platz besetzt. Gymnasiastinnen und Gymnasiasten aus Basel und Lörrach haben sich versammelt. Vorne sitzt Shlomo Graber, ein alter, leicht gebückter Mann mit schlohweißem Haar und wachem Blick. Er wohnt nur einen Steinwurf entfernt. Graber, der bis zur Deportation nach Auschwitz 1944 mit seiner Familie in Ungarn gelebt hatte, spricht in einem weichen Deutsch mit jiddischem Akzent. Mit klarer, nie brechender Stimme erzählt er eine Dreiviertelstunde vom Grauen des Vernichtungslagers, von seiner Mutter und den Geschwistern, die sich vor seinen Augen an sie klammerten, als sie an der Rampe ins Gas geschickt wurden, von seinem Vater, der mit ihm zur Zwangsarbeit nach Görlitz deportiert wurde, wo sie unter entsetzlichen Bedingungen überlebten, und von der jungen deutschen Mutter in der nach Kriegsende praktisch menschenleeren Stadt Görlitz, mit der er sein Brot teilte, weil er, wie er sagt, »nicht hassen wollte«.
Nein, sein Überleben sei weder Schicksal noch Gottes Fügung gewesen, antwortet Graber auf die klugen Fragen der jungen Leute, deren Generation man doch so gern nachsagt, sie sei oberflächlich und desinteressiert. »Ich habe entschieden, mir selbst zu helfen, und so habe ich überlebt.« Er sei streng orthodox erzogen worden. In dieser Welt nahe am Aberglauben habe schon das Fallenlassen eines heiligen Gegenstandes genügt, um einen Tag des Fastens einzulegen. »Als den Juden in unserem Dorf befohlen wurde, das Nötigste zu packen, hat ein gläubiger Jude ein heiliges Gebetstuch eingepackt. Als ein SS-Offizier dies sah, riss er es ihm aus der Hand und warf es auf den Boden. Nichts geschah weiter. Da habe ich zu meinem Vater gesagt: Es kann keinen Gott geben, wenn er das zulässt.« Er sei später aus Tradition regelmäßig in die Synagoge gegangen. Aber die Entscheidung, welchen Glauben seine Kinder annehmen wollen, habe er ihnen überlassen. »Jeder Mensch soll nach seiner Religion leben.«
Drei Jahre hat Shlomo Graber an seinen Erinnerungen geschrieben. Mehr als dreißig Minuten pro Tag seien nicht möglich gewesen, erinnert sich seine Frau. Dann sei er jedes Mal für einen langen Spaziergang verschwunden. Von einer Gymnasiastin nach den Beweggründen gefragt, berichtet er von einem Zeitungsinterview in Israel, wo er vierzig Jahre gelebt habe, zur Shoa. »Es erschien auf der Titelseite. Meine Kinder warfen mir vor, ich hätte ihnen nie davon erzählt. Das stimmte. Ich hatte wohl nie verschwiegen, dass ich im Konzentrationslager war, aber das Grauen, das wollte ich meinen Kindern ersparen. Ich versprach ihnen, meine Geschichte aufzuschreiben. Das gelang mir erst Jahrzehnte später, in der Schweiz, wohin ich übersiedelt war.«
Nach Israel sei er gegangen, »weil ich ein Staatsbürger sein wollte. Mit allen bürgerlichen Rechten und in Freiheit. Diese Rechte gewährte mir der Staat Israel.« Das hatte seinen Preis. Es galt über Jahre ein »Gebot des Schweigens«. Der Aufbau des Staates sei wichtig gewesen, nicht die Vergangenheitsbewältigung. »Und manchmal sahen wir Überlebenden uns dem Vorwurf ausgesetzt, wir hätten uns nicht gewehrt. Wie hätte ich das tun sollen? Ich war auf dreißig Kilo abgemagert.« Erst der Prozess gegen Adolf Eichmann habe ein großes Umdenken bewirkt. Ein Schüler will wissen, ob es im Lager Freizeit gab. Graber antwortet kurz angebunden. »Nein. Es gab nur die Zwangsarbeit, den Tag und die Nacht. Und den Hunger.«
Ob er seine Jugend nachgeholt habe, möchte ein Schüler wissen. »Nein. Das war gar nicht möglich. Ich hatte nur sechs Jahre eine Schule besucht und musste später alles nachholen. Für anderes gab es gar keine Zeit. Ich hatte ein Ziel: ein normales Leben zu führen.« Er habe keine Jugend gehabt, und darum erzähle er der heutigen Jugend davon. »Die Jugend ist die Zukunft, und ich mag die jungen Leute. Ich wünsche mir, dass ihr es weiter erzählt.«
Ob man sich bei ihm entschuldigt habe, wird Graber gefragt. Seine Antwort ist unmissverständlich. »Offiziell nie, auch der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck, der mich zu einer Gedenkveranstaltung eingeladen hatte, entschuldigte sich nicht. Eine junge Frau bat mich um Entschuldigung. Ich wies sie zurecht. Sie habe damit nichts zu tun.«
Читать дальше