Martin Arnold | Urs Fitze
Humanitäre Hilfe und Integration in der Schweiz vom Ersten Weltkrieg bis heute
Der Verlag bedankt sich bei folgenden Institutionen für die finanzielle Unterstützung dieser Publikation:
ULRICO HOEPLI-STIFTUNG
Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.
Der Auszug aus dem Gedicht von Serhij Zhadan ist dem Band Warum ich nicht im Netz bin. Gedichte und Prosa aus dem Krieg , aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe, Suhrkamp, Berlin 2016, entnommen.
© 2020 Rotpunktverlag, Zürich
www.rotpunktverlag.ch
Umschlagbild: Moria, Lesbos, Griechenland: In Moria sind laut UNHCR-Bericht vom März 2020 von mehr als 21’670 Flüchtlingen 34 Prozent Kinder unter 12 Jahren. Sie leben in diesem überfüllten Lager unter katastrophalen unmenschlichen Bedingungen, haben eingeschränkten Zugang zu Gesundheitsdiensten und sanitären Einrichtungen. Foto: Murat Tueremis, Keystone.
eISBN: 978-3-85869-890-2
1. Auflage 2020
Nimm die wichtigsten Dinge, die Briefe zum Beispiel
Nimm die leichten Sachen, die wiegen nicht viel
Nimm die Heiligenbilder, das Silberbesteck
Nimm die Kreuze, den Goldkram, wir gehen weg.
Nimm ein bisschen Gemüse und vom Brot am Stück
Wir kommen nie wieder hierher zurück
Wir werden die Städte nicht wiedersehen
Nimm die Briefe, auch schlimme, dann lass uns gehen.
Wir müssen die Nachtkioske verlassen
Die Gesichter der Freunde werden verblassen
aus dem trockenen Brunnen ist kein Wasser zu ziehen
wir zwei sind Flüchtlinge, nachts müssen wir fliehn.
Serhij Zhadan
Vorwort
Erstes Kapitel
Vom Ersten Weltkrieg bis in die Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs
Von der Liebestätigkeit zum vollen Boot
Naara Appel»Ich habe mit meinem Großvater geweint«
Argyris Sfountouris»Ich lebe gleichzeitig in zwei Welten«
Shlomo Graber»Es gab nur die Zwangsarbeit, den Tag und die Nacht. Und den Hunger«
Ivan Lefkovits»Du warst als Kind im Konzentrationslager? Das wusste ich nicht«
Monika Gyr»Ein Kreis hat sich geschlossen«
Zweites Kapitel
Von 1950 bis in die Gegenwart
Ein langer Weg zu den Kinderrechten
Lejla Šukaj»Eine gewisse Wurzellosigkeit bleibt vielleicht immer in mir«
Urim Deva»Es war Herbst, kalt, ich war von der Flucht erschöpft«
Drittes Kapitel
Auf dem Weg
LibanonEin Land am Anschlag
SizilienDas Geschäft mit den Kinderflüchtlingen
Como»So reich und so abweisend«
Vanja Crnojević»Jetzt kann ich mich engagieren«
Viertes Kapitel
Ankommen
Traumata und die schwierige Befragung
Shlomit Goldberger»Das Positive an den eigenen Wurzeln wiederentdecken«
Sara Michalik»Die Resignation greift um sich«
Eleonora Meier»Diese jungen Leute wollen etwas machen aus ihrem Leben«
Frédéric»Wir sind Brandlöscher«
Fünftes Kapitel
Integration
Die Zeit drängt
Katrin Rutishauser»Junge Geflüchtete sind eine Bereicherung für unsere Gesellschaft«
Mirjam Zimmermann»Es geht um eine möglichst große Teilhabe am normalen Leben«
Mahmoud Alshawi, 17, Syrer
April 2017
Juni 2017
Dezember 2017
Juli 2018
November 2019
Fathia Suleiman, 19, Somalierin
März 2017
Juni 2017
Jahreswende 2017/18
Juni 2019
Dezember 2019
Dekyi, 22, Tibeterin
Februar 2017
Juni 2017
Februar 2018
Sechstes Kapitel
Leben in der Unsichtbarkeit
Sans-Papiers in der Schweiz
Dolores EstrellaSchwanger und bedroht
Rashid NagviKeine Komödie, sondern ein Drama
Siebtes Kapitel
Suche nach den Wurzeln
Kindern eine neue Heimat bieten
Aymara Nina»Bitte sagen Sie nicht Mutter«
Nina Thao ZanettiEtwas ist zurückgeblieben
Nachwort
Wir brauchen eine neue Asylpolitik
Anhang
Literaturverzeichnis
Dank
Autoren
Ein Krieg bringt Leid über viele Menschen. Das schwere Los, das insbesondere Kinder dabei ziehen, berührt und beschäftigt uns und ist Anlass für dieses Buch. Kinder sind wehrlos, und sie haben das Recht, in einer geschützten Umgebung aufzuwachsen. Die große Welle des »Flüchtlingsdramas« erlebten wir 2015, doch wenn man genau hinsieht (auch dann noch, wenn die Kameras schon weitergezogen sind), ist das Leiden fliehender Kinder nicht vorbei. Während sich heute Kinder aus vielen zerrütteten Ländern via Iran, Syrien und die Türkei, durch die Sahara oder auf anderen gefährlichen Pfaden auf den Weg nach Europa machen, kamen sie früher aus europäischen Ländern, beispielsweise auf der Flucht vor der Franco- oder der Hitlerdiktatur und vor der stalinistischen Verfolgung. Kinder sind Opfer politischer Machtverhältnisse. Sie werden missbraucht. Kindersoldaten sind keine Erfindung perfider Warlords. Auch Hitler schickte Kinder an die Front und ins Gas. Die Entscheidung zur Flucht fällen meist die Erwachsenen, und wenn sich Minderjährige aus eigenem Antrieb auf den Weg machen, dann fliehen sie nicht immer vor Gewalt. Sie sind oft auch auf der Suche nach einer Zukunft, die besser ist als ein Kampf um die Deckung minimalster Grundbedürfnisse. Das war übrigens während Jahrhunderten auch in der Schweiz so. Im Tessin und in der Ostschweiz mussten Eltern überzählige Esser vom Tisch wegschicken: in die Kamine Mailands oder auf die Bauernhöfe im süddeutschen Raum. Heute würde man von sklavenähnlichen Verhältnissen sprechen, die die Kinder dort erdulden mussten.
Ein Drittel der 2019 nach Europa Geflüchteten waren unbegleitete Minderjährige. Flucht- und Migrationsbewegungen werden anhalten, und sie werden sich noch verstärken. Auch von Kindern. Dafür wird nicht zuletzt der Klimawandel sorgen. Welche Antworten findet unsere Gesellschaft darauf? Die einen fordern eine einfache Lösung durch Abschottung, durch Zurückweisung. Die anderen appellieren an eine moralische und ethische Pflicht zur Solidarität. Doch beide Positionen blenden das große Dilemma zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik einfach aus. Die Gesinnungsethik spricht von Menschenrechten und einer universellen Verpflichtung, Menschen in Not zu helfen, solange wir damit nicht überfordert sind. Die Verantwortungsethik möchte die Zuwanderung begrenzen und hält es für zulässig, Menschen abzuschieben. Eine Gesellschaft kann nicht beide Positionen gleichzeitig erfüllen. Die Gesinnungsethik ist politisch, die Verantwortungsethik moralisch nicht umsetzbar, sagt etwa der deutsche Philosoph Konrad Ott. Deshalb gilt es als erstes, diesen Widerspruch zu akzeptieren. Denn wo soll die Grenze verlaufen, an der wir die Geflüchteten scheiden in die, die bleiben dürfen, und jene, die gehen müssen? Um diese Grenze setzen zu können, bedarf es der Auseinandersetzung, zuallererst mit den Geflüchteten, mit ihrer Geschichte und ihren Geschichten. Das geht unter die Haut.
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