Martin Arnold - Kinder auf der Flucht

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Das Drama der geflüchteten Kinder ist nie vorbei. Das zeigen die aktuellen Bilder aus Idlib oder Lesbos, das zeigt aber auch ein Blick in die Geschichte. Während sich heute Kinder aus vielen zerrütteten Ländern via Iran, Syrien und die Türkei, durch die Sahara oder auf anderen gefährlichen Pfaden auf den Weg nach Europa machen, kamen sie früher aus europäischen Ländern, beispielsweise auf der Flucht vor der Franco- oder der Hitlerdiktatur und später vor der stalinistischen Verfolgung. Kinder sind Opfer politischer Machtverhältnisse.
Die Schweiz spielte stets eine besondere Rolle, wenn es um Menschen und insbesondere Kinder auf der Flucht ging – im Positiven wie auch im Negativen. Die beiden Journalisten Martin Arnold und Urs Fitze ziehen mit den Mitteln der historischen Recherche und der Reportage einen Querschnitt durch das 20. und 21. Jahrhundert und beleuchten dabei – anhand von Porträts und zahlreichen O-Tönen – insbesondere auch heutige Fragen von humanitärer Hilfe und Integration in der neuen Heimat. Der historische Vergleich verdeutlicht Parallelen in der öffentlichen Wahrnehmung, und er lotet die Bedeutung von Solidarität damals wie heute aus.

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Martin Arnold | Urs Fitze

Kinder auf der Flucht

Humanitäre Hilfe und Integration in der Schweiz vom Ersten Weltkrieg bis heute

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Der Verlag bedankt sich bei folgenden Institutionen für die finanzielle Unterstützung dieser Publikation:

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Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

Der Auszug aus dem Gedicht von Serhij Zhadan ist dem Band Warum ich nicht im Netz bin. Gedichte und Prosa aus dem Krieg , aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe, Suhrkamp, Berlin 2016, entnommen.

© 2020 Rotpunktverlag, Zürich

www.rotpunktverlag.ch

Umschlagbild: Moria, Lesbos, Griechenland: In Moria sind laut UNHCR-Bericht vom März 2020 von mehr als 21’670 Flüchtlingen 34 Prozent Kinder unter 12 Jahren. Sie leben in diesem überfüllten Lager unter katastrophalen unmenschlichen Bedingungen, haben eingeschränkten Zugang zu Gesundheitsdiensten und sanitären Einrichtungen. Foto: Murat Tueremis, Keystone.

eISBN: 978-3-85869-890-2

1. Auflage 2020

Nimm die wichtigsten Dinge, die Briefe zum Beispiel

Nimm die leichten Sachen, die wiegen nicht viel

Nimm die Heiligenbilder, das Silberbesteck

Nimm die Kreuze, den Goldkram, wir gehen weg.

Nimm ein bisschen Gemüse und vom Brot am Stück

Wir kommen nie wieder hierher zurück

Wir werden die Städte nicht wiedersehen

Nimm die Briefe, auch schlimme, dann lass uns gehen.

Wir müssen die Nachtkioske verlassen

Die Gesichter der Freunde werden verblassen

aus dem trockenen Brunnen ist kein Wasser zu ziehen

wir zwei sind Flüchtlinge, nachts müssen wir fliehn.

Serhij Zhadan

Inhalt

Vorwort

Erstes Kapitel

Vom Ersten Weltkrieg bis in die Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs

Von der Liebestätigkeit zum vollen Boot

Naara Appel»Ich habe mit meinem Großvater geweint«

Argyris Sfountouris»Ich lebe gleichzeitig in zwei Welten«

Shlomo Graber»Es gab nur die Zwangsarbeit, den Tag und die Nacht. Und den Hunger«

Ivan Lefkovits»Du warst als Kind im Konzentrationslager? Das wusste ich nicht«

Monika Gyr»Ein Kreis hat sich geschlossen«

Zweites Kapitel

Von 1950 bis in die Gegenwart

Ein langer Weg zu den Kinderrechten

Lejla Šukaj»Eine gewisse Wurzellosigkeit bleibt vielleicht immer in mir«

Urim Deva»Es war Herbst, kalt, ich war von der Flucht erschöpft«

Drittes Kapitel

Auf dem Weg

LibanonEin Land am Anschlag

SizilienDas Geschäft mit den Kinderflüchtlingen

Como»So reich und so abweisend«

Vanja Crnojević»Jetzt kann ich mich engagieren«

Viertes Kapitel

Ankommen

Traumata und die schwierige Befragung

Shlomit Goldberger»Das Positive an den eigenen Wurzeln wiederentdecken«

Sara Michalik»Die Resignation greift um sich«

Eleonora Meier»Diese jungen Leute wollen etwas machen aus ihrem Leben«

Frédéric»Wir sind Brandlöscher«

Fünftes Kapitel

Integration

Die Zeit drängt

Katrin Rutishauser»Junge Geflüchtete sind eine Bereicherung für unsere Gesellschaft«

Mirjam Zimmermann»Es geht um eine möglichst große Teilhabe am normalen Leben«

Mahmoud Alshawi, 17, Syrer

April 2017

Juni 2017

Dezember 2017

Juli 2018

November 2019

Fathia Suleiman, 19, Somalierin

März 2017

Juni 2017

Jahreswende 2017/18

Juni 2019

Dezember 2019

Dekyi, 22, Tibeterin

Februar 2017

Juni 2017

Februar 2018

Sechstes Kapitel

Leben in der Unsichtbarkeit

Sans-Papiers in der Schweiz

Dolores EstrellaSchwanger und bedroht

Rashid NagviKeine Komödie, sondern ein Drama

Siebtes Kapitel

Suche nach den Wurzeln

Kindern eine neue Heimat bieten

Aymara Nina»Bitte sagen Sie nicht Mutter«

Nina Thao ZanettiEtwas ist zurückgeblieben

Nachwort

Wir brauchen eine neue Asylpolitik

Anhang

Literaturverzeichnis

Dank

Autoren

Vorwort

Ein Krieg bringt Leid über viele Menschen. Das schwere Los, das insbesondere Kinder dabei ziehen, berührt und beschäftigt uns und ist Anlass für dieses Buch. Kinder sind wehrlos, und sie haben das Recht, in einer geschützten Umgebung aufzuwachsen. Die große Welle des »Flüchtlingsdramas« erlebten wir 2015, doch wenn man genau hinsieht (auch dann noch, wenn die Kameras schon weitergezogen sind), ist das Leiden fliehender Kinder nicht vorbei. Während sich heute Kinder aus vielen zerrütteten Ländern via Iran, Syrien und die Türkei, durch die Sahara oder auf anderen gefährlichen Pfaden auf den Weg nach Europa machen, kamen sie früher aus europäischen Ländern, beispielsweise auf der Flucht vor der Franco- oder der Hitlerdiktatur und vor der stalinistischen Verfolgung. Kinder sind Opfer politischer Machtverhältnisse. Sie werden missbraucht. Kindersoldaten sind keine Erfindung perfider Warlords. Auch Hitler schickte Kinder an die Front und ins Gas. Die Entscheidung zur Flucht fällen meist die Erwachsenen, und wenn sich Minderjährige aus eigenem Antrieb auf den Weg machen, dann fliehen sie nicht immer vor Gewalt. Sie sind oft auch auf der Suche nach einer Zukunft, die besser ist als ein Kampf um die Deckung minimalster Grundbedürfnisse. Das war übrigens während Jahrhunderten auch in der Schweiz so. Im Tessin und in der Ostschweiz mussten Eltern überzählige Esser vom Tisch wegschicken: in die Kamine Mailands oder auf die Bauernhöfe im süddeutschen Raum. Heute würde man von sklavenähnlichen Verhältnissen sprechen, die die Kinder dort erdulden mussten.

Ein Drittel der 2019 nach Europa Geflüchteten waren unbegleitete Minderjährige. Flucht- und Migrationsbewegungen werden anhalten, und sie werden sich noch verstärken. Auch von Kindern. Dafür wird nicht zuletzt der Klimawandel sorgen. Welche Antworten findet unsere Gesellschaft darauf? Die einen fordern eine einfache Lösung durch Abschottung, durch Zurückweisung. Die anderen appellieren an eine moralische und ethische Pflicht zur Solidarität. Doch beide Positionen blenden das große Dilemma zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik einfach aus. Die Gesinnungsethik spricht von Menschenrechten und einer universellen Verpflichtung, Menschen in Not zu helfen, solange wir damit nicht überfordert sind. Die Verantwortungsethik möchte die Zuwanderung begrenzen und hält es für zulässig, Menschen abzuschieben. Eine Gesellschaft kann nicht beide Positionen gleichzeitig erfüllen. Die Gesinnungsethik ist politisch, die Verantwortungsethik moralisch nicht umsetzbar, sagt etwa der deutsche Philosoph Konrad Ott. Deshalb gilt es als erstes, diesen Widerspruch zu akzeptieren. Denn wo soll die Grenze verlaufen, an der wir die Geflüchteten scheiden in die, die bleiben dürfen, und jene, die gehen müssen? Um diese Grenze setzen zu können, bedarf es der Auseinandersetzung, zuallererst mit den Geflüchteten, mit ihrer Geschichte und ihren Geschichten. Das geht unter die Haut.

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