Viele erwachsene Kinder fühlen sich sehr unbehaglich, wenn sie das erste Mal die nicht-idealisierte Wahrheit über ihre Eltern aussprechen. Die bloße Schlussfolgerung, dass unsere Eltern uns gegenüber ihre Pflicht vernachlässigt haben, kann uns das Gefühl geben, dass wir kurz davor stehen, vom »Zorn Gottes« vernichtet zu werden.
Ich glaube, das vierte Gebot ist uns in einer sehr repressiven, dogmatischen Form überliefert worden. Es ist ein Zerrbild jüdisch-christlicher Sitten, wenn das Gebot, Vater und Mutter zu ehren, so häufig zu der unwidersprochenen Akzeptanz nicht tolerierbaren Verhaltens verzerrt wird. Es ist, als ob das Gebot eigentlich sagt: »Ehre deinen Vater und deine Mutter, egal wie sehr sie dich verletzen.«
Bei der Vorstellung, dass viele Überlebende aus blinder Treue zu diesem Gebot ihre Kinder der »Obhut« der noch immer misshandelnden Großeltern überlassen, zucke ich innerlich unweigerlich zusammen. Ich bin einer Reihe von Überlebenden begegnet, die durch ihre eigene Verleugnung so benommen sind, dass sie ihre Kinder mit demselben Elternteil allein lassen, der sie in der Kindheit misshandelt hat. Ich denke, das vierte Gebot sollte neu übersetzt werden als »Ehre deinen Vater und deine Mutter, wenn sie dich ehren«.
Vorschnelle Vergebung und der Verlust der fundamentalen Menschenrechte
Die Liebe ist in der Tat so widersprüchlich geworden, dass einige derer, die das Familienleben erforschen, zu dem Schluss gekommen sind, dass »Liebe« einfach die Art und Weise bezeichnet, wie mächtigere Familienmitglieder andere Mitglieder kontrollieren. Liebe, so Ronald Laing, ist oft ein Deckmantel für Gewalt .
— Rollo May, Love and Will
Vorschnelle Vergebung bringt das innere Kind zum Schweigen, so wie biologische Eltern das wirkliche Kind zum Schweigen bringen. Viele von uns verbieten ihrem inneren Kind und damit auch sich selbst weiterhin ihre grundlegendsten Rechte und Bedürfnisse. Wir beschämen und hassen unser inneres Kind regelmäßig, wenn es sich beschwert, fühlt, Empfindungen zeigt oder mehr als das Nötigste braucht. Vorschnelle Vergebung hält die anhaltende Retraumatisierung und das Gefühl der Verlassenheit unseres inneren Kindes aufrecht.
In der »Bill of Rights« werden in Bezug auf die Selbstentfaltung Rechte benannt (Anhang B), die Kindern üblicherweise verweigert werden und die ausschließlich den Eltern zustehen. Ein Großteil unserer Kindheitstraumata geschah, als wir für unsere instinktiven Versuche, diese Rechte auszuüben, bestraft wurden. Viele leiden immer noch unnötigerweise darunter, dass sie auf solche Grundrechte wie das Recht, Nein zu sagen, das Recht, mit Respekt behandelt zu werden, und das Recht auf eigene Gefühle, Meinungen und Vorlieben verzichten. Unsere Gesundheit und unser zukünftiges Gedeihen hängen davon ab, dass wir diese Rechte einfordern und ausüben.
Erwachsene Kinder können die »Bill of Rights« als Ziele und Leitlinien für ihre Genesungsbemühungen nutzen. Um dabei erfolgreich zu sein, müssen wir aufhören, die durch uns »verziehene« elterliche Kritik nachzuahmen, die unser gesundes Eigeninteresse drosselt, wann immer es aufkommt.
Sie könnten sich jetzt einen Moment Zeit nehmen, um zu überlegen, ob Sie sich immer noch mit der auswendig gelernten elterlichen Zensur in Schach halten. Haben Sie in letzter Zeit eines der folgenden Verbote in Ihrem Kopf widerhallen hören? »Wie kannst du es wagen, mir zu widersprechen?« »Sei nicht so egoistisch!« »Hör auf, dich selbst zu bemitleiden – du bist so emotional!« »Wen interessiert es, was du willst. Es gibt noch andere Leute außer dir, weißt du?« »Sei einfach mal froh für das, was du hast – denk zur Abwechslung mal an andere!« »Hör auf ständig zu plappern – warum glaubst du, dass es jemanden interessiert, was du zu sagen hast?«
Wenn Sie bei einem dieser Sätze zusammenzucken oder sich verkrampfen, könnten Sie sich als gesunde Reaktion darüber entrüsten, dass man auf diese Weise gegen Sie vorgegangen ist. Sie könnten die Energie Ihres gerechten Zornes nutzen, um Ihre Bemühungen um die grundlegenden Menschenrechte, die durch diese Aussagen auf unfaire Weise verletzt werden, zu stärken.
Vorschnelle Vergebung basiert nicht immer nur auf Verleugnung, Angst oder Schuldgefühlen. Diese falsche Form der Vergebung kann auch durch den normalen Wunsch motiviert sein, über die Verletzung hinwegzukommen und eine liebevolle Beziehung zur Familie zu haben. Auch als Erwachsene haben wir immer noch zum großen Teil das Bedürfnis des Kindes, geliebt zu sein. Die Entscheidung zur Vergebung kann daher dem Wunsch entspringen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, um sich bei den Eltern wohlfühlen zu können. Wir können uns nur allzu leicht auf eine falsche Vergebung berufen, weil die meisten von uns gut darin geübt sind, ihre nicht verheilten Wunden aus der Kindheit zu ignorieren, um die Illusion einer liebenden Familie aufrechtzuerhalten.
Leider führt uns die vorschnelle Vergebung zu einer Beziehung mit unseren Eltern, die kaum weniger echte Wärme und Intimität haben könnte. Solange wir nicht die ungelöste Angst und den Schmerz, den unsere Eltern uns zugefügt haben, verarbeitet haben, werden wir uns in ihrer Nähe immer unbehaglich fühlen und sie auf emotionaler Distanz halten. Das ist häufig der Fall, selbst wenn sie ihre missbräuchliche Art abgelegt haben.
Falsche Vergebung und Perfektionismus
Du sollst nicht du selbst sein .
— Herbie Monroe
Die eigenen Unzulänglichkeiten zu erleben und trotzdem weiterzumachen, sind zwei der größten Errungenschaften des Erwachsenseins. Erfolg ist in vielerlei Hinsicht nicht so wichtig wie Misserfolg und wie man damit umgeht .
— Robert Hand
Perfektionismus ist der selbstzerstörerische Prozess unserer Selbstbewertung mit gottähnlichen Maßstäben. Oliver Wendell Holmes hat davor gewarnt, als er sagte: »Junger Mann, das Geheimnis meines Erfolges ist, dass ich schon in jungen Jahren entdeckt habe, dass ich nicht Gott bin.«
Die unerreichbaren Standards des Perfektionismus machen uns auf grausame und wenig hilfreiche Weise selbstkritisch. Ewiges Glück und unbeirrbare Spitzenleistungen sind weitverbreitete perfektionistische Erwartungen, die die meisten Amerikaner quälen. Diejenigen von uns, die mit diesen beiden heimtückischen Werten belastet sind, werden wahrscheinlich alle anderen Qualitäten ihres Seins und ihrer Leistung als beschämend unzulänglich beurteilen.
Perfektionismus ist in den Industriegesellschaften weit verbreitet. Er ist so sehr mit dem amerikanischen Leben verwoben wie das Geheimnis von Baseball und Apple Pie. Ich habe kürzlich eine Fernsehsendung gesehen, in der Drittklässler gebeten wurden, die fehlenden Teile verschiedener Sprichwörter zu ergänzen. Obwohl das Publikum sich vor Lachen nicht halten konnte, sahen einige so schockiert aus wie ich, als das Kind das Sprichwort »Wenn es Ihnen nicht auf Anhieb gelingt« in vollem Ernst so ergänzte: »… werden Sie für immer ein Verlierer und eine Last für die Gesellschaft sein.«
Der Perfektionismus wurde wahrscheinlich am Fließband geboren, wo die Arbeiter gezwungen sind, so emotionslos, effizient, bedürfnislos und störungsfrei zu sein wie die Maschinen, die sie bedienen. Industriegesellschaften produzieren bei fast allen, unterstützt durch die Kaderschmiede der Familie, perfektionistische, seelenzerstörende Erwartungen.
Perfektionismus entsteht automatisch bei Kindern, die übermäßiger Kritik und Bestrafung ausgesetzt sind. In der Hoffnung, die offensichtlichen Gründe ihrer Eltern für ihre Unzufriedenheit zu beseitigen, streben sie das unmögliche Ziel an, fehlerfrei zu werden. Aus Angst vor der Missbilligung ihrer Eltern verunglimpfen sie sich selbst für die kleinsten Fehler und kommen schließlich zu dem Schluss, dass viele ihrer normalen Bedürfnisse Schwachstellen sind, die beseitigt werden müssen.
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