»Dann ist ja alles in Ordnung«, rief Frau Böhk erleichtert aus. »Der Pfarrer kommt ohnehin nur alle vierzehn Tage vom Schloss zu uns herüber, dem Kinde wird’s auch guttun, ein Christ zu werden. Hernach trinken wir Schokolade. Das muss so sein; das ist selbstverständlich. Ich besorge schon das nötige, später berechnen wir uns. Die Leb hab ich auch eingeladen. – Sie sind ein liebes, vernünftiges Kind.«
Als Frau Böhk fort war, blickte Rosa sinnend ihr Kind an. Die Hebamme hatte sie erschreckt. So etwas war nicht möglich! Dieses arme, zarte Kindchen und eine so grausame, finstere Sache wie der Tod, was konnten die gemein haben? »Nein, das tust du nicht, mein Engel! Das werd ich dir nie erlauben«, flüsterte sie.
Der Sonntagnachmittag war für die Familie Böhk voll großer Geschäftigkeit. Schon das Aufsetzen der Haube mit den gelben Bändern, die Frau Böhk nur an Tauftagen aus dem Kasten nahm, war ein Ereignis. Herr Böhk, als der Welterfahrenste, besorgte das. »Sitz still, Frau Böhk!« befahl er. »Die eine Seite mit der großen Rose muss zurückgeschoben werden, sonst sieht es steif aus. Eine Haube muss ein wenig schief sitzen, nicht gerade wie eine Nachtmütze. Nein, ein wenig, wie soll ich sagen? Ein wenig liederlich muss es aussehen; so – so – ›Komm und küsse mich‹ – verstehst du?«
»Böhk, Böhk!« mahnte die Hebamme. »Dass du mich nicht ganz gottlos herrichtest!«
»Nein, Wilhelmine!« erwiderte Herr Böhk überlegen. »Du kannst ruhig sein. Für die Würde ist gesorgt, aber auch für die Schönheit. So, jetzt siehst du gut aus, blühend – gelb und rot.«
Für sich holte Herr Böhk einen Frack, weiße Handschuhe und einen Zylinder aus dem Kasten. Er war stolz auf diese Sachen. Die Schöße des Frackes vorsichtig in der Hand haltend, ging er mit ausgebogener Taille feierlich im Zimmer auf und ab, gefolgt von seinem Sohn, der über die Kleidung des Vaters spottete. »Wie dumm das ist, so ’n Frack.«
»Dumm?« erwiderte Herr Böhk hochmütig. »Der Frack ist hier nicht der Dumme.«
»Da fehlt ja vorne was!«
»Lieber Hans, dir fehlt etwas.«
Dieses Mal nahm Frau Böhk die Partei ihres Mannes. »Lass ihn, Hans, du verstehst wirklich nichts davon.« Sie hegte selbst große Achtung vor diesem Kleidungsstück.
Endlich war alles bereit, man wollte jedoch noch warten, bis der Gottesdienst ausgeläutet wurde, um das Gedränge zu vermeiden. Rosa hielt das Kind auf dem Schoß. Sie trug heute ihr weißes Musselinkleid und weiße Rosen im Haar. Wer sie dasitzen sah mit dem erregten blassen Gesicht, hätte sie für ein kleines Mädchen gehalten, das man zur Einsegnung führt.
»Also das Kind wird Ernst nach Ihrem Herrn Papa und Arnold nach mir heißen?« fragte Herr Böhk und blieb vor dem Täufling stehen. Rosa nickte. Da beugte er sich auf das Kind herab und sagte gerührt: »Was machst du, kleines Arnoldchen?«
Als die Kirchenglocken zu läuten begannen, machte sich die Taufgesellschaft auf den Weg. Sie hatte es nicht weit; links hinter dem Böhkschen Hause lag die Kirche auf einer Anhöhe, dicht von alten Ahornbäumen umgeben. Sie war ein achteckiger Pavillon ohne Turm. Das flache Land und die Nähe der See ließen befürchten, ein Turm könnte die Schiffe irreleiten.
Der Gottesdienst war zu Ende. Eine große Menschenmenge bewegte sich die Anhöhe herab.
In der lichtvollen Atmosphäre des Julitages nahmen die sonntäglichen Gestalten, die Bäume, die Kirche mit ihrem spitzen Ziegeldach lustige, schreiende Farben an. Die kleine Schar, von Frau Böhk geführt, ging zuerst in die Sakristei. In dem kleinen Gemach mit den nackten weißen Wänden saß der Pfarrer an einem Tisch: ein dicker alter Herr mit einem sehr weißen, unfreundlichen Gesicht. Er wandte sich hastig nach den Eintretenden um und sagte verstimmt:
»Warum kommen Sie nicht zur rechten Zeit?«
Frau Böhk machte einen Knicks und entschuldigte sich: »Wir warteten, bis der Gottesdienst…«
»Der ist lange schon zu Ende«, unterbrach sie der Pfarrer. »Um fünf Uhr muss ich zum Diner im Schloss sein. Nun also schnell. Wo ist das Kind?«
Er warf einen prüfenden Blick auf Rosa, fasste seinen Talar vorn zusammen und ging voran in die Kirche.
Auf Frau Böhks Anordnung musste Rosa sich in einen Kirchenstuhl setzen, während die anderen mit dem Kinde vor dem Altar standen. Durch die hohen Fenster schien die Sonne voll herein und badete die Holzgalerie des Chors, die vergoldeten Holzblumen des Altarblattes in gelbem Licht.
Auf dem Altar funkelten der Kelch und die Leuchter; überall ein reges Glimmen und Flimmern. In den Kirchenstühlen lagen welkende Jasminstengel und Feldblumen, die Kinder und Mädchen mit hereingenommen und dort vergessen hatten. Eine Schwalbe hatte sich in die Kirche hineinverirrt und zog ihre Kreise oben an der gewölbten Decke, kurze sanfte Rufe ausstoßend.
Herr Böhk ließ sich das Kind auf die Arme legen; Frau Böhk, Grethe, die Leb standen andächtig mit gefalteten Händen neben ihm. Der Pfarrer blätterte in einem Buch und zog das Gesicht in fette Falten, weil die Sonne ihm in die Augen schien. Das Kind wimmerte – ein leiser Ton, wie das Zwitschern der Schwalbe oben an der Wölbung. Hinter sich hörte Rosa vorsichtige Schritte auf den Fliesen. Die Leute kamen von draußen wieder in die Kirche, standen an den Kirchenstühlen und hörten zu. Jetzt war der Pfarrer bereit. Er wischte sich mit zwei Fingern die Mundwinkel und hielt eine kurze Anrede, leise und schnell sprechend, wie jemand, der bald fertig zu sein wünscht. Er machte die Eltern und Taufpaten darauf aufmerksam, dass ein Kind ein teures, ihnen anvertrautes Gut sei, über das sie einst Rechenschaft ablegen müssen. Nicht den Eltern gehöre das Kind, sondern Gott, und Gott wache eifersüchtig über sein Eigentum, wie der Bibelspruch es schon besage: »Bei deinem Namen habe ich dich gerufen, in meine Hände hab ich dich gezeichnet, du bist mein.«
Rosa entsann sich nicht, dass bisher eine kirchliche Handlung auf sie großen Eindruck gemacht hätte. Das Frösteln unter der kühlen Kirchenwölbung war für sie stets der Inbegriff der Andacht gewesen. Heute aber erregte die Stimme des Pfarrers in ihr ernste Rührung. All die frommen Worte wurden ja zu ihrem Kinde gesprochen, hatte auf dieses Bezug. Es freute sie zu hören, dass ein so allmächtiger Beschützer sich ihres Kindes annahm, ihr half, es zu verteidigen. Dafür nahm Rosa sich vor, recht fromm zu sein, alles zu tun, wovon der Pfarrer Raser im Konfirmationsunterricht gesagt hatte, dass Gott es von den Menschen verlange. Wenn Gott nur auf das Kleine recht Obacht geben würde.
Der Pfarrer schwieg. Frau Böhk nestelte dem Kinde das Häubchen auf, und die Taufe begann. Alle sprachen das Credo; der Pfarrer eilte mit seiner routinierten Stimme voraus, Herr Böhk, der Pathos hineinlegen wollte, blieb stets um einen Satz zurück, bis seine Frau ihn mit dem Ellenbogen in die Seite stieß; da schwieg er ärgerlich ganz. Nun war es zu Ende. Der Pfarrer ging ohne Gruß fort, er fürchtete, zu spät zum Diner zu kommen.
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