»Heute scheint es besser zu gehen«, sagte die Hebamme eines Abends. »Heute morgen waren die Krämpfe zwar heftig, jetzt aber schläft das Kind ja ganz ruhig. Ich geh zu Bett. Tun Sie das auch. Sollte etwas passieren, so rufen Sie; Grethe schläft nebenan.«
Das Kind war rot im Gesicht, fühlte sich heiß an, schien aber fest zu schlafen, die Wange in das Kissen gedrückt, die winzigen Hände geballt und in das Bettuch gewickelt.
Gut! Rosa beschloss, sich auf ihr Bett zu legen, ohne zu schlafen. Ehe sie sich jedoch dessen versah, entschwand ihr das Bewusstsein, und sie verfiel in einen öden Schlummer, aus dem sie betäubt und gebrochen auffuhr, als hätte sie eine schlechte Tat begangen.
Es mochte ein Uhr morgens sein. Durch die Fensterscheiben sahen das kühle Blau des nächtlichen Himmels und einige blasser werdende Sterne herein, am Wiesenrande dämmerte es weiß. Still und schwül war es im Gemach, die Nachtlampe warf einen engen, trübgelben Lichtkreis um sich herum.
Rosa, die Ellenbogen in die Kissen gestützt, saß auf. Es fröstelte sie, und schwere Müdigkeit lähmte ihr die Glieder. Sie dachte nach; es war ihr, als hätte ihr etwas Böses geträumt, dessen sie sich nicht mehr entsinnen konnte.
Plötzlich drang ein leiser Ton zu ihr; ein Schlucken; es klang, als gösse man Wasser aus einer Flasche mit zu engem Hals in ein Glas. Da war es wieder! Von der Wiege kam der Ton. Hastig sprang Rosa auf. Das Kind lag regungslos da und hielt die Augen offen, so weit offen, wie Rosa es bei ihm bisher nie gesehen hatte. – »Mein Gott!« stöhnte Rosa. Sie ging zur Türe, rief nach Frau Böhk, nahm dann das Kind auf ihre Knie, als sie es anfasste, wand es sich jedoch hin und her. Die roten Puppenhändchen fuhren hilflos empor, und in der kleinen Brust kochte es. Mit den Füßen stemmte sich das Kind gegen Rosas Arm, und der ganze Körper arbeitete, als wollte er sich aufrichten. Rosa beugte sich tief auf ihr Kind nieder und sah es an. Vor dieser stummen Qual wurde sie mutlos und gedankenlos. Alle Energie ihrer Liebe verließ sie. Sie wartete. Von irgendwoher musste doch Hilfe kommen! »Gott, es stirbt ja!« sagte jemand neben ihr. Sie schlug die Augen auf, deren Blau ganz dunkel vor Entrüstung und Erregung wurde. Frau Böhk und Grethe standen in der Türe: »Wer sagt es Ihnen, dass es stirbt?« fragte Rosa mit zitternder tiefer Stimme. »Das wird es nicht!« Wie um ihr Kind zu schützen, beugte sie sich wieder auf dasselbe nieder und bedeckte es mit ihren blonden Haaren. »Nein! Niemand soll sagen, dass es stirbt!«
Frau Böhk zuckte verlegen die Achseln: »Ein Bad könnte man versuchen«, meinte sie, »obgleich wohl kaum noch zu helfen sein wird.« Als sie aber das Kind nehmen wollte, keuchte dieses und zuckte zusammen, als fürchte es sich. »Lassen Sie es nur!« rief Rosa heftig und ließ den Vorhang ihrer Haare dichter auf das Kind niederfallen. »Sie glauben ja, dass es stirbt. Gehen Sie, ich will es allein pflegen.« Frau Böhk wich zurück und blieb mit Grethe stumm auf der Türschwelle stehen. Rosa achtete nicht darauf, ganz hingenommen von dem verzweifelten Kampf, den der hilflose Kinderkörper auf ihren Knien kämpfte.
Die Hände des Kindes bewegten sich unsicher und matt, als wollten sie etwas fortschieben, abwehren. An den Mundwinkeln war weißer Schaum, und die Augen flehten angstvoll zu Rosa empor. Was konnte sie tun? Das war die entsetzliche Pein, die ihr das Herz abdrückte, dass sie ohnmächtig vor der bittern Not ihres Kindes stand. Das arme kleine Wesen, das noch keinen Schmerz kannte, wurde ganz allein einem dunkeln, grausamen Etwas gegenübergestellt, mit ihm zu ringen. Das Kleine, das sich vor seinen eigenen Händen fürchtete, sollte einsam den dunkelsten, unheimlichsten Weg gehen, und seine Mutter musste müßig zusehen, musste es dem Tode überlassen. Dazu mischte sich in das übermächtige Erbarmen der menschliche egoistische Abscheu vor dem Tode. Rosa hatte es nie gesehen, wie ein Mensch stirbt, und jetzt machte sich eine schmerzliche Neugier geltend. Rosa verfolgte genau jede Bewegung des Kindes, als lese sie in den krampfhaft zuckenden Zügen etwas von dem Geheimnis des Todes, das sie mit schauderndem Erstaunen erfüllte.
Sehr stille war es im Zimmer geworden; nur ein ganz leises Geräusch war hörbar, wie das Prasseln einer Nachtlampe, die verlöschen will. Das war das Röcheln des Kindes. Endlich verstummte auch dieses. Das Kind bewegte seinen Kopf hin und her, wie taumelnd, zuckte mit den Händen, streckte sich und lag bewegungslos da.
Frau Böhk winkte Grethe mit den Wimpern zu, und beide entfernten sich auf den Fußspitzen. Rosa blickte unverwandt den Körper an, der jetzt steif in ihren Armen lag. Was sich eben vollzogen hatte, dachte sie nicht klar; nur die eine Empfindung war in ihr wach: »Das Kind ist nicht mehr da, es ist fort – ist irgendwo verlassen und allein im Finstern, und ich kann nicht zu ihm.« Die Spannung ihres Geistes ließ nach, ihre Glieder wurden lose und weich. Es war ihr, als sänke sie unaufhaltsam in einen Abgrund nieder; sie durfte nicht nachgeben – sie verließ etwas – sie gab etwas auf; und doch – wie konnte sie widerstehen? Es tat ihr wohl. Immer tiefer – finstrer – stiller. Ihr totes Kind in den Armen haltend, den Kopf an die Wand gelehnt, versank Rosa in einen ohnmächtigen Schlummer.
Frau Böhk beabsichtigte im Wohnzimmer einen kleinen Katafalk aufzuschlagen, die Leiche des Kindes auf demselben in Blumen zu betten und mit vier Kerzen zu beleuchten. Herr Böhk hatte für die Kerzen hübsche Ringe aus Silberpapier verfertigt. »So können wir dort sitzen; für das liebe Kleine beten. Die Leb wird auch kommen. Die Nacht vor dem Leichenbegängnis wachen wir natürlich. Grog werde ich schon besorgen; das gehört sich. Später berechnen wir uns, dass ich nicht zu Schaden kommen werde, das weiß ich.«
Auf diese Vorschläge antwortete Rosa in ihrer müden, abwesenden Weise, die sie seit dem Tode ihres Sohnes angenommen hatte: »Ich danke Ihnen, Frau Böhk, Sie sind sehr freundlich. Das Kind aber dürfen Sie aus meinem Zimmer nicht fortnehmen.«
»Warum denn nicht?« sagte die Hebamme eindringlich, »hier unten wird sich alles viel besser machen. Die Blumen, das schwarz ausgeschlagene Gerüst, die Kerzen. Denken Sie sich nur, wie hübsch das sein wird!«
»Ja, sehr hübsch! Aber aus meinem Zimmer dürfen Sie das Kind nicht fortnehmen.«
Was war gegen solchen Eigensinn zu tun? Frau Böhk wollte es versuchen, auch oben alles so anständig wie möglich herzurichten, obgleich mit der engen Kammer kein großer Staat zu machen war. Die Wiege wurde mit schwarzem Tuch behangen, mit Blumen besteckt; die Kerzen mit ihren Ringen aus Silberpapier standen nebenan auf der Kommode. Was zu machen war, geschah; dennoch sah es nicht besonders aus.
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