»Ist das Tiglau?« fragte Rosa. Agnes fuhr aus dem Schlaf, in den sie versunken war, auf und meinte, freilich sei das Tiglau.
So hatte es sich Rosa gewünscht, verloren im weiten, dämmerigen Lande. Hier musste man Ruhe finden können.
Die ersten Häuser des Marktfleckens zeigten sich schon, ärmliche einstöckige Häuser. Durch die Fenster ohne Vorhänge sah man im Schein einer Petroleumlampe ungekämmte Kinderköpfe – Frauen in zerknitterten Baumwolljacken – nackte Säuglinge auf dem Arm. An den Bretterzäunen, die die Straße einfassten, warfen sich Buben mit Schneeballen, und wenn der Wagen an ihnen vorüberfuhr, hoben sie rote, erfrorene Gesichter zu ihm auf, lachten und pfiffen ihm nach. An den meisten Häusern befanden sich kleine Vorgärten, und dort, zwischen den beschneiten Büschen, standen Männer und sprachen zu dunklen Gestalten hinauf, die sich aus dem Fenster zu ihnen niederbeugten. Die ganze enge Gasse ward von frischem Kichern, von ausgelassenem Kreischen, von einem jugendlich lustigen Treiben belebt, das sich in der Dämmerung gehenließ.
Vor einem dunklen Hause mit spitzem Giebel hielt der Wagen. Die Haustür stand offen. »Hier – hier Kind«, sagte Agnes und führte Rosa durch den finstern Flur. »Ist denn niemand zu Hause? Hier muss die Türe zur Küche sein, das weiß ich noch. Richtig, da ist sie.« – Sie traten in einen dämmerigen Raum. Ein starker Geranium- und Zwiebelgeruch und ein heftiger Zugwind schlugen ihnen entgegen. Die beiden Fenster des Gemaches waren geöffnet, und in einem jeden derselben lag jemand, den Oberkörper hinausbeugend; man unterschied nur zwei faltige Mädchenröcke und vier unruhige Füße, die sich auf die Spitzen stellten. Ein gedämpftes Sprechen – Männer- und Frauenstimmen klangen herüber, zuweilen von einem hellaufprasselnden Gelächter unterbrochen.
»Das ist doch wirklich!« schalt Agnes. »Mädchen, hört ihr denn nicht?« Nein, die Mädchen hörten nicht; Agnes musste kräftig an einem der Röcke ziehen, da erst ward es still. Zwei Gestalten richteten sich mit leisen Schreckensrufen auf, und wie sie sich gegen den hellen Horizont abhoben, erschienen sie Rosa seltsam groß und breit.
»Was macht ihr denn?« zankte Agnes. »Wir stehen hier und rufen, aber niemand hört. Werdet ihr nicht die Fenster schließen, mein Fräulein wird sich erkälten.« Die Mädchen gehorchten, aber große Männerhände wurden von außen hereingestreckt und mussten erst zurückgeschoben werden.
»Du – Martha – bist die ältere«, kommandierte Agnes weiter, »stecke die Kerze an. Ist die Tante nicht daheim? Habt ihr uns heute gar nicht erwartet? Ich schrieb doch.«
Martha beugte sich tief auf das Streichholz nieder, mit dem sie das Licht anmachte, und erwiderte: Doch, die Tante hatte gewartet. Am Nachmittage aber hatte die Bäckerin nach ihr geschickt; sie musste gleich wieder da sein.
»So – so«, meinte Agnes besänftigt und half Rosa ihren Mantel ablegen: »Zieh dich hier aus, Kind, dann gehen wir ins Wohnzimmer hinüber. Gefroren hast du – was? Kommt, Mädchen, leuchtet uns. Ah, hier ist’s warm! Setz dich dort auf den Sessel, Kind, lege die Füße auf den Fußschemel. So! Wenn wir jetzt nur bald etwas Warmes für den Magen hätten. Was, darf man euch nicht ansehen?«
Die beiden Mädchen standen, von ihren Gästen abgewendet, in der dunkelsten Ecke des Zimmers; erst als Agnes sie anrief, kehrten sie Rosa große, lächelnde Gesichter zu mit roten Wangen, runden, hellgrauen Augen, breiten Lippen und sehr weißen Zähnen. Braune Zöpfe legten sich um die kugelrunden Köpfe, und die blauen Jacken waren fest über den hohen Busen geknöpft. Eine derbe Frische lag über diesen Mädchen, und Rosa musste auch lächeln, als sie in diese Gesichter schaute, die noch feucht von Schneeflocken waren.
»Das sind Mädchen, was?« rief Agnes begeistert aus. »Wie die Mannsleute, wie die Soldaten!«
Stramm und aufrecht standen sie da, als trügen sie statt der Jacken Kürasse, und ließen sich betrachten.
»Du bist Martha«, fuhr Agnes fort, »das sah ich schon im Finstern, denn du bist die Größere. Aber die Grethe ist auch hübsch in die Höhe gegangen. Ja – ja, aber wie man Gäste empfängt, habt ihr doch nicht erlernt; weiß es Gott! So geht doch, Feuer in der Küche anmachen, dass wir etwas Warmes bekommen, hurtig!«
Die Mädchen machten kehrt, dass die Röcke sausten, und liefen hinaus. Nebenan in der Küche hörte man sie mit schweren Schritten umhergehen, flüstern und kichern.
»Vom Lande eben!« entschuldigte Agnes und schaute sich im Zimmer um. »Recht fein hat sich die Schwester eingerichtet, diese Decken – diese Bilder! Nicht wahr?«
»Ja – sehr fein.«
Das blau tapezierte Zimmer war von Gegenständen überfüllt: Drei Kommoden, viele braun polierte Stühle mit rotem Überzug, ein Sofa, vier Lehnsessel, ein großer und zwei kleine Tische. Überall lagen weiße, aus Baumwolle geknüpfte Schutzdecken umher. Kleine Fotografien in schwarzen Rahmen hingen an den Wänden – die einen mit Wacholderzweigen, andere mit Papierblumen bekränzt. Endlich – in der Ecke am Fenster – stand ein Glasschrank, in dem sich allerhand fremdes, geheimnisvolles Gerät befand. Agnes lobte die Sessel und setzte sich auf einen derselben bequem zurecht. Der guten Seele tat es wohl, auch einmal Gast sein zu dürfen, und sie rieb sich die Hände, was sonst ihre Gewohnheit nicht war.
Plötzlich ward die Türe heftig aufgerissen, und eine tiefe, laute Frauenstimme rief atemlos aus dem Flur in das Wohnzimmer hinein: »Ich sagte es gleich, sobald ich fort bin, kommen sie. Aber diese Bäckerin, die gibt mir keine Ruh. Täglich muss sie mich holen lassen, für nichts und wieder nichts!«
Die kleine breite Frau Böhk stürmte ins Zimmer hinein, gehüllt in ein graues Umschlagtuch, weiße Pakete unter beiden Armen. Sie streckte Agnes ihr rotes, kühles Gesicht zum Kusse entgegen und sprach dabei weiter, immer noch in ihr Tuch gehüllt, die Pakete unter den Armen. »Guten Abend, Schwester! Wie gesagt, nur die Bäckerin ist schuld daran, dass ich nicht zu Hause war. Ich sage dir, diese Person bringt mich um. Eine Mutter von fünf Kindern, und doch jedesmal derselbe Tanz, sie kennt ihren Termin nicht. Lässt mich in einem fort holen, glaubt, sie stirbt schon. Ah, das ist dein Fräulein! Guten Abend, Fräulein! Wir wollen uns schon miteinander vertragen.«
Frau Böhk hatte viel Ähnlichkeit mit Agnes, nur war sie eine sehr blühende, in die Breite gegangene Agnes. Die Schwestern hatten gleich graue Augen, aber die der Hebamme waren runder, traten mehr hervor und rollten unternehmender. Das ganze Gesicht hatte ein jüngeres, gesünderes Aussehen und glänzte, wie von Firnis überzogen. Sie entledigte sich endlich ihres Tuches und ihrer Pakete, sprach immerzu und belebte das Gemach mit ihren runden, hastigen Bewegungen, und als noch die Mädchen hereinkamen und, von der Tante gescholten, hin und her schossen, da ward das Treiben so bunt und lebhaft, dass es Rosa schwindelte.
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