Dr. Holte hatte recht. Bald saß Rosa wieder im Sessel und nahm Agnes’ Pflege und Sorgfalt willig wie ein Kind entgegen. Eine große Krankheit, dachte sie, wäre ihr lieber gewesen, eine jener Krankheiten, von denen sie gelesen, die jede Erinnerung an die Vergangenheit zerstören und den Menschen wie ein reines, unbeschriebenes Blatt dem Leben wieder übergeben. Ja, wer wieder ganz von neuem anfangen könnte!
Täglich fragte Rosa ihren Vater: »Bist du bei der Schank gewesen?« – »Nein«, antwortete dieser und schlug sich mit der Hand an die Stirn. »Mein alter Kopf behält auch nichts mehr. Aber, so große Eile wird’s wohl nicht haben.«
»Doch – Papa«, meinte Rosa mit dem herben, gereizten Stimmton, den sie in letzter Zeit annahm.
Sehr schwer entschloss sich Herr Herz zu diesem Gang; eines Morgens aber machte er sich doch auf den Weg. Fräulein Schank empfing ihren alten Freund äußerst kühl und streng. Sie meinte: Damals, als noch Zeit war, wollte man nicht. Jetzt wüsste sie nicht, ob die betreffende Stelle noch frei sei. Hätte man damals auf sie gehört, so wäre manches besser geworden. »Übrigens«, sagte sie, »wissen Sie’s ja, dass ich bereit bin zu helfen, wenn ich kann; schon um Ihrer verewigten Schwester willen, der, dem Himmel sei Dank, manche herbe Erfahrung erspart geblieben ist. Ich werde also schreiben – mich erkundigen. Vor zwei Wochen ist natürlich an kein Resultat zu denken.« Sie reichte dem Ballettänzer zum Abschied ihre kalten, spitzen Finger und wiederholte: »Wenn ich nützen kann, stehe ich zu Diensten, um Ihrer Schwester willen.«
Diese halbe Stunde vor dem mitleidig sauren Gesichte der Schulvorsteherin war Herrn Herz peinlich genug gewesen, mit dem Ergebnis der Unterredung jedoch war er zufrieden. Vor zwei Wochen brauchte von Rosas Abreise nicht die Rede zu sein. Sehr erleichtert eilte er heim. Rosa fand er nicht im Wohnzimmer. Er fragte Agnes, die aus Rosas Zimmer kam und die Türe hinter sich schloss: »Schläft das Kind noch?«
»Ja«, erwiderte Agnes einfach – und machte sich daran, den Staub von der Kommode zu wischen.
»Sie schläft noch?« wiederholte Herr Herz erstaunt. »Ist sie denn krank?«
»Ja – sie ist krank.« Agnes arbeitete, ohne aufzublicken, emsig fort.
»Da will ich doch nachsehen –« Er warf seinen Hut fort und eilte zur Türe. Agnes hielt ihn jedoch mit einem kurzen »Gehen Sie besser nicht« zurück. Herr Herz blieb stehen, protestierte: »Warum nicht?« Was waren das für neue Einrichtungen. Er musste Rosa berichten, was die Schank gesagt hatte; aber während er so vor sich hinzankte, ward ihm unbehaglich zumut. Agnes sah so feierlich aus – wischte eifrig und unnahbar den Staub von der Kommode – und machte ihr ernstes Gesicht, zog den Mund auseinander, so dass an den Mundwinkeln große Falten entstanden; eine Miene, die sie nur dann aufsetzte, wenn sie Kopfweh hatte oder wenn etwas vorgefallen war.
»Was ist denn geschehen?« fragte Herr Herz plötzlich.
»Wegen der Reise«, versetzte Agnes, »brauchen Sie der Rosa nichts zu sagen. Jetzt kann sie nicht reisen.«
»Nicht?« Herr Herz stand mitten im Zimmer und machte ein sehr verwirrtes Gesicht.
»Nein«, fuhr Agnes fort, hastig die Platte der Kommode reibend: »Wir haben gedacht, sie soll nach Tiglau – – für einige Zeit – – zu meiner Schwester. Wenn auch nicht gleich – –« Sie bog den Kopf zur Seite, um zu sehen, ob die Politur nicht einen Flecken behielt.
»Nach Tiglau, sagst du?« Herr Herz verstand nicht, was vorging. »So? – Du meinst der Landluft wegen – was?« Agnes zuckte die Achseln und ordnete die Bände der illustrierten Zeitschrift. »Was? – So sprich doch –« wiederholte Herr Herz leise und dringend. Da wandte sich Agnes ihm zu und sagte langsam: »Nach Tiglau – muss sie; zu meiner Schwester – Böhk.«
»Zu deiner Schwester Böhk«, sprach er ihr sinnend nach. – »Nach Tiglau – ja – ja –« Und als er aufschaute, begegnete er den fest auf ihn gerichteten Blicken seiner alten Dienerin. Sie sahen sich schweigend an. Herr Herz errötete, um gleich wieder ganz bleich zu werden. Agnes wandte sich ihrer Arbeit zu. Sie wusste es: jetzt hatte er verstanden.
Der Ballettänzer stand noch eine Weile regungslos mitten im Zimmer, dann ging er mit zitternden Beinen zum Schrank, um seinen Hut einzuschließen, wie er es stets tat. »Also nach Tiglau! So – so«, murmelte er, »je nun! – Das geht –« mechanisch, in gleichgültigem Ton hingeworfene Worte, die er selbst nicht hörte. Er setzte sich, schlug die Beine übereinander, steckte die Hände unter das Knie.
Als Agnes das Zimmer verlassen wollte, schaute sie sich nach ihrem Herrn um und fand, dass er seltsam verfallen und grau dasaß. »Sie sollten ein wenig an die Luft gehen«, warf sie hin. »An die Luft«, antwortete er. »Ja, das kann nichts schaden.« Agnes half ihm den Überrock anziehen, reichte ihm den Hut, während er immer halblaut wiederholte: »Ja, das kann nichts schaden!«
Im Stadtgarten kam ihm der Doktor entgegen und rief ihn an: »Hallo – Herz! Was laufen Sie denn da herum!« – »Ich mache mir Bewegung«, antwortete Herr Herz. Ja, er machte sich sehr heftig Bewegung! Den Hut im Nacken, den Überrock offen, ging er mit Fieberhast die Kieswege auf und ab. Die greisen Augenbrauen zuckten, und er sprach eifrig mit sich selbst: »Nein, das habe ich nicht erwartet – das nicht! Ich meinte, das Schlimmste sei vorüber, nun kommt so etwas! Jahr um Jahr hat man gearbeitet, um dem Kinde eine Zukunft zu verschaffen – und alles umsonst!«
Die Schande, das Elend, die er als Komödiant hinuntergewürgt hatte, sie kamen, wie eine böse Krankheit, bei seinem Kinde wieder zum Vorschein. Rosa musste es büßen, dass er – Herz – nicht von jeher ein ordentlicher Bürger gewesen war. – Zuweilen blieb er stehen, stemmte einen Arm in die Seite – versuchte sich wieder zu den leichtfertigen Ballettänzeranschauungen zu überreden: Was ist dabei? Kannte denn jemand all die Geschichten, die Zerline ausgeführt hatte? Ach, was die Leute nicht sehen…! Und dennoch – dennoch – es war schrecklich! Was sollte er Rosa sagen. Er zürnte ihr und war es doch so ungewohnt, ihr zu zürnen.
Daheim aber schmolz aller Zorn im übergroßen Mitleid dahin vor der blassen Gestalt seiner Tochter. Rosa schaute ihrem Vater mit großen, angstvollen Augen entgegen und wartete, was er sagen würde. – Er jedoch vermochte nichts zu sagen; beim ersten Wort wären die Tränen gekommen. Er küsste Rosa auf den Scheitel – streichelte sanft ihren Arm.
»Armer Papa«, sagte Rosa, ohne die Liebkosungen zu erwidern, indem sie ruhig sitzenblieb, die Hände im Schoß gefaltet.
»Lass es gut sein«, versetzte Herr Herz mit bebender Stimme.
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