»Habt ihr schon gegessen?«
»Nein, Agnes wartet.«
Für die Familie Herz kam jetzt eine Zeit trüben, selten unterbrochenen Schweigens. Selbst Agnes fand nichts mehr zu sagen – von Tiglau durfte nicht gesprochen werden. In den Zimmern, die von der Oktobersonne mit nüchterner Klarheit erfüllt wurden, gingen die drei bekümmerten Menschen still und in sich gekehrt nebeneinander her, und über einen jeden von ihnen kam oft ein tiefes Sinnen, das ihn auf den Fleck, auf dem er stand, die Hand an der Arbeit, die er eben verrichtete, festbannte.
Rosa empfand anfangs nur unnennbares Staunen, das war nicht möglich! An so etwas hatte sie nie gedacht. Es war zu ungeheuerlich und erregte in ihr eine unklare, ungläubige Furcht. Zwar, in den Romanen, von denen Fräulein Schank sagte, dass sie Gift für jedes junge Mädchen seien, da pflegte wohl ein armes, bleiches Weib mit einem Kinde vor dem vornehmen jungen Mann zu erscheinen, der gerade mit seiner Braut spazierengeht. Also – so etwas war’s, was ihr begegnete. Ein großes Unglück, natürlich! Sie stand aber in ihrer kindischen Unbeholfenheit davor und versuchte es sich dadurch klarzumachen, dass sie an die heimlich gelesenen Romane dachte.
Agnes hatte ihr an jenem Morgen, sehr erschrocken, sehr erregt, aber klar und bar gesagt: »Liebes Kind, mit dir steht es so und so.« Gut, es war entsetzlich! Dennoch hätte Rosa gern mehr darüber erfahren. Endlich – eines morgens – trat sie, tief errötend, zu Agnes in die Küche, schloss die Türe hinter sich und veranlasste ein langes, halblaut geführtes Gespräch, das ihr vieles klarmachte.
Wunderbar blieb es immerhin!
Stundenlang saß sie in ihrer Kammer, sah den rötlichen Zweigen der Kastanie zu, wie sie sich sachte auf dem Hintergrunde des hartblauen Himmels hin und her wiegten, und dachte nach: Also – ganz einfach – einen Menschen sollte sie zur Welt bringen, ein Wesen wie sie selbst, wie jene dort unten, deren Schritte zu ihr herauftönten; nur dass dieses Wesen ihr gehören würde – ganz ihr, nicht wahr? So gut wie ihre Stecknadeln und ihr Fingerhut? Seltsam! Und dieses Eigentum wird essen und trinken und lieben und unglücklich sein wie sie – wie Ambrosius –? Nein – schlecht und unglücklich sollte es nicht werden! Es? – Was? – Wer war das? Rosas armes Mädchenhirn stand ratlos vor den großen Fragen des Lebens. Sie schauerte in sich zusammen. Sie fürchtete sich vor sich selbst! Gespenstisch erschien ihr der eigene Körper, in dem so wunderbare Dinge vor sich gehen sollten – erschien ihr das eigene Herz, das plötzlich etwas zu verteidigen und zu lieben begann, was gar nicht da war – was niemand kannte. Nein, zu begreifen war es nicht! – Sie ließ ihren Kopf auf das Fensterbrett sinken und weinte.
Aber in dem tiefen Schmerz, der sie laut und lange schluchzen ließ, war etwas – kaum geahnt und doch empfunden – etwas wie Trost, etwas, zu dem ihr verarmt und verödet Leben hinstrebte; etwas Reines, Schönes, das ihr vielleicht werden konnte. So unverstanden dieses Gefühl auch war, dennoch ließ es Rosas Tränen sanfter rinnen.
Drittes Buch – Tiglau
An einem trüben Morgen – Ende Januar – trat Rosa ihre Reise nach Tiglau an. Agnes sollte sie begleiten, alles dort einrichten und wieder zurückkommen.
Herr Herz war an diesem Abschiedsmorgen schweigsam und tief bekümmert. Er konnte nur immer wieder sein Kind sanft streicheln – bald das Haar – bald die Schulter – bald den Arm – und unzählige Male »Mein altes Kind!« sagen.
Als der Wagen vor dem Tor hielt und Agnes zur Abfahrt mahnte, kniete Rosa bei ihrem Vater nieder, ihm noch einmal Lebewohl zu sagen. Er nahm das Gesicht, das ihn so liebend anlächelte, wie nur Rosa es konnte, in seine beiden zitternden Hände, hielt es und schaute es mit feuchten Augen an: »Du weißt«, sagte er, »du und ich, wir gehören zueinander.« – »Ja – Papa!« – »Natürlich, mein Kind, du – und ich.« Dann küsste er seine Tochter auf den Scheitel.
Als der Wagen fortrollte, weinte der alte Mann ungestört. Es sah ihn ja niemand. Frei ließ er die Tränen an den faltigen Wangen niederrinnen und schluchzte ganz laut. Möglich, dass ein alter Bürger der Stadt so nicht hätte weinen sollen. Lanin hätte es nicht getan, hätte das unwürdig genannt. Was hatte es aber dem armen Ballettänzer genützt, ein würdiger Bürger zu sein? Jetzt saß er einsam in seiner Stube und sehnte sich nach seinem Kinde. Da wollte er wenigstens so unbändig weinen, wie er es zuweilen damals tat, als er noch ein unwürdiger Ballettänzer war und Zerline ihn quälte.
Rosa und Agnes mussten den ganzen Tag über fahren und konnten erst mit der Dunkelheit in Tiglau eintreffen. Als sie durch die Stadt fuhren, steckte Agnes den Kopf zum Wagenfenster hinaus und murrte: »Aha! Da schaut die Sally Lanin zum Fenster hinaus. Die ist mir auch die Rechte! Da geht der flirrige Apotheker und guckt sich nach uns die Augen aus. Guck du nur, du Flidder! Dich brauchen wir nicht mehr.« Rosa mochte nichts sehen. Sie schloss die Augen und lehnte sich in den Wagen zurück. Das Bimbim der Pferdeglocke, das Rattern und Schütteln des Wagens gaben ihr den Trost, dass sie fortgetragen werde von Lanins, Klappekahl, dem Trödler – fort – fort. Erst als die Stadt hinter ihr lag, öffnete sie die Augen und blickte auf das flache, leicht mit Schnee überdeckte Land hinaus, und ihr ward ums Herz wie dem Schwimmer, dem es gelungen ist, sich durch eine schlammige Stelle hindurchzuarbeiten und der nun mit Wonne wieder ins klare Wasser kommt. Die weiße Ruhe ringsum tat dem Mädchen wohl, erregte in ihm das kindliche Hingezogenfühlen zur Natur, das unentwickelte Seelen erst empfinden, wenn sie elend sind. Rosa beneidete die Nebelkrähen, die breitbeinig auf den Feldern spazierengingen und nachdenklich mit den schwarzen Köpfen wackelten. Sie hüpften gleichgültig beruhigt herum, wie Kinder im Elternhause. Wenn der Wagen zu nah an ihnen vorüberfuhr, stießen sie ärgerlich knarrende Laute aus und flogen auf – fort – in den grauen Winterhimmel hinein, einem fernen Waldrande zu, wo sie ihren Platz hatten. »Ja, gut muss es tun, in dieser stillen, reinen Welt seinen Platz zu haben – hier zu Hause zu sein!« dachte Rosa.
An kleinen Landschänken hielt der Wagen, damit die Pferde sich verschnauften. Schmutzige Kinder standen auf den Treppenstufen, hüpften von einem Fuß auf den andern und sahen die Fremden neugierig an. Durch die Haustüre schlug der Rauch des Herdfeuers ins Freie hinaus, und durch die Fenster sah man in kleine, dunkle Stuben hinein. – Gegen Abend begann es zu schneien. Aber durch das krause Wirbeln der Flocken konnte Rosa doch auf den heller werdenden Horizont hinabschauen, ein zartgoldnes Band und ein Stück durchsichtig weißen Himmels. Gegen diese Helligkeit hoben sich ein spitzer Kirchturm und die gradlinigen Massen einiger Häuser dunkel ab. Lichter erwachten dort, trübrote Funken, auf das reine, blasse Himmelsgold gestreut.
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