Gegen Morgen erst hatte Agnes Rosa zu Bett gebracht, und ein tiefer Schlaf war über das arme Kind gekommen, aus dem sie erst spät am Vormittag erwachte.
Agnes, die auf diesen Augenblick gespannt gewartet hatte, ging sofort zu ihr und schlug vor, Rosa solle zu Bett bleiben, Tee trinken, ein Ei essen, sich warm zudecken. Rosa wies alles zurück, lächelte und antwortete mit klarer, ruhiger Stimme, sie wolle sich ankleiden und dann Tee trinken. Agnes möge nur so gut sein, im Wohnzimmer ein Feuer anzumachen, denn Rosa fror.
»Ja, ja«, erwiderte Agnes unsicher. »Ich meinte nur, es wäre besser, du bliebst liegen. Wenn ich krank bin oder mir sonst nicht recht ist, mein ich, im Bett, da ist’s am sichersten; da kommt mir nicht so leicht etwas nah, das mich kränken oder mir schaden könnte. Aber wie du willst.«
Es war, als habe Rosa während des langen, traumlosen Schlafes alle ihre Erfahrungen zusammengerechnet, denn die Summe stand ihr heute mit überraschender Deutlichkeit vor Augen. Keine Unklarheit, keine Hoffnung mehr, die gestalt- und ziellos im Herzen schläft. Heute sagte sich Rosa: »Ich muss fort.« Vielleicht hatte die Schank noch die bewusste Stelle zu vergeben. Der Vater sollte sobald als möglich mit ihr darüber sprechen. Mit selbständiger Willkür hatte Rosa ihr Leben verdorben, nun begriff sie, dass sie selbst ihm wieder irgendeine erträgliche Gestalt zu geben versuchen musste. Ein festes Ziel, ein greifbarer Zweck, das war das einzige, was sie jetzt ersehnte. Als sie ihrem Vater ihre ernste Stirn zum Morgenkusse bot, sagte sie: »Papa, setz dich her zu mir und hör mir, bitte, zu. Wir wollen sehr vernünftig sprechen.«
»Gewiss, Kind«, erwiderte Herr Herz und fügte hinzu, weil er glaubte, ein Scherz erleichtere jede Situation: »Und was für ein strenges Schulmeistergesicht du machst!«
»Oh, lache nicht, Papa! Ich habe allen Grund, ernst zu sein«, meinte Rosa, und während sie ihren Tee trank, erklärte sie: »Ich wollte dich bitten, zu Fräulein Schank hinüberzugehen – recht bald – morgen schon, um sie zu fragen, ob jene – Bonnenstelle, von der sie sprach, noch frei ist. Ich bin bereit, gleich abzureisen, wenn es nötig ist.«
»Warum denn?« fragte Herr Herz schnell. »Ist gestern etwas passiert?«
»Nein. Oder doch. Klappekahl teilte mir einiges – über Ambrosius Tellerat mit, das regte mich auf – und hat wohl auch zu meinem Entschluss beigetragen.«
Während sie sprach, tauchte sie Brotschnitte in den Tee und aß und trank mit Heißhunger. – Herr Herz blickte Agnes scheu an. Hatte diese vielleicht all das auch vorausgesehen? Kleinlaut versetzte er dann: »Warum willst du denn fort, liebes Kind?«
»Wir haben das schon besprochen«, erwiderte Rosa, ernst aufblickend, »und am Ende geht die Stelle verloren.«
»So ganz allein willst du mich lassen?« Der alte Ballettänzer verlor seine Fassung. Das fremde, gesetzte Wesen seines Kindes schnürte ihm das Herz zusammen. Rosa aber rückte nahe zu ihm heran, legte ihre Hand mit einer mütterlich überlegenen Bewegung an seine Wange und tröstete ihn. »Du darfst nicht so betrübt sein und mir das Herz schwer machen. Wir wollen uns zusammennehmen. Nicht wahr?« In ihren Worten lag wieder das Liebevolle, Kameradschaftliche, das er an seiner Rosa gewohnt war. »Du weißt es ja, dass ich fort muss. Wenn ich viel Geld verdient habe – dann komme ich zurück, und wir führen ein hübsches Leben, wir drei Alten, denn dann bin ich auch schon alt.«
Herr Herz lächelte, die Augen voller Tränen: »Wer weiß, mein Kind, ob du mich dann noch findest.«
»Doch!« erwiderte Rosa leise. »Da, wo man hoffen darf, muss man hoffen, nicht wahr? Wenn wir denken müssten, dass alles im Leben schlimm ausgeht, dass nichts so kommt, wie wir es wünschen, nein, das wäre zu hart! Du, Agnes und ich werden sehr lustige Leute sein.«
Agnes stand an der Türe, sie wandte jedoch Vater und Tochter den Rücken zu, sie mochte ihr Gesicht nicht sehen lassen. –
»Du gehst also morgen zu Fräulein Schank«, schloss Rosa und lehnte sich fröstelnd in die Sofaecke zurück. »Jetzt wollen wir beisammen sein ganz wie früher. Komm, Agnes – setz dich her – und du, Papa, erzähl etwas.«
Herr Herz wischte sich getröstet die Tränen aus den Augen. Gemütlichkeit vergötterte er. Wären die Leute nur gemütlich, vieles im Leben wäre leichter zu ertragen – meinte er. Er begann von Sally und Toddels zu erzählen, wie sie sich im Laden geküsst hatten, wie sie Arm in Arm auf der Straße einherstolzierten und miteinander disputierten; Sally fand ihren Bräutigam nicht »gläubig« genug und wollte ihn bekehren. – Rosa hörte schweigend zu und lachte zuweilen – sanft und matt, wie im Schlaf. Agnes, die Brille mit den großen runden Gläsern auf der Nase, saß vor dem Feuer und strickte. »Nun«, bemerkte sie zu Herrn Herz’ Bericht, »wenn die den Toddels heiraten kann, hätte sie ebensogut den Lurch nehmen können, da ist kein Unterschied.«
»Lurch!« rief der Ballettänzer. »Weißt du das denn nicht? Der ist heute morgen unten am Fluss in der verrufenen Badestube tot aufgefunden worden. Ja, ja, in der Wanne hat er gesessen und hat sich mit einem Rasiermesser die Pulsader geöffnet. Es ist toll! Die alte Lurch ist schlimm daran! Und – warum er’s getan, weiß kein Mensch.«
»Um Gottes willen! Sehn Sie doch das Kind an!« schrie Agnes auf.
Rosa hatte sich vorgebeugt und starrte ihren Vater an, das Gesicht weiß wie ein Tuch. »Rosa – ist dir schlecht?« fragte Herr Herz.
»Ja«, sagte sie, sank zurück und schloss die Augen. »Sehr schlecht!«
Das Gefühl des Ekels und der Furcht, wie sie es gestern unten am Fluss empfunden hatte, erschütterte sie wieder. Klammerte sich doch alles, was niedrig, grausam, furchtbar war, an ihr Leben. Ja, auch diese blutige Tat in der schmutzigen Badestube gehörte zu ihr. Sie sah Lurchs gelbes Gesicht von Blut befleckt – sie hörte wieder den heiseren, gequälten Ton seiner Stimme: »Die Liebe zu Ihnen frisst an mir.« Pfui! Alles, alles verschwor sich, um sie zu beflecken! Sie ging unter in den trüben, unreinen Fluten – und nirgends Rettung. Sie fuhr auf. »Geht nicht fort«, rief sie und griff angstvoll nach dem Arm ihres Vaters.
»Nein, Kind, wir sind da. Beruhige dich. Komm, leg dich zur Ruh.« Rosa ließ sich fortführen, wiederholte nur immer: »Geht nicht fort.«
Ein heftiges Fieber ergriff sie über Nacht. Dr. Holte kam und schüttelte bedenklich den Kopf, als er jedoch nach einiger Zeit wieder vorsprach, fand er das Fieber gesunken; die Patientin schlief ruhig. »Es ist vorüber«, sagte er. »Große Mattigkeit wird eintreten, und dann sind wir fertig. Eine prächtige Natur, Ihre Tochter – bester Herz; kräftig, wissen Sie. Empfehle mich.«
Читать дальше