»Das muss hart gewesen sein!«
»Leicht war’s nicht! Aber wir schliefen im Wagen. Das Pferd fand den Weg schon allein, nur die Laterne musste brennen, sonst blieb es stehen. Ja, und einmal«, Agnes stemmte den Griff ihres Messers auf ihr Knie und blickte Rosa lustig an, »einmal, da haben wir’s gut gemacht. Ich schlief, und der Hans schlief, die Laterne war erloschen und das Pferd stehengeblieben. Nun – und so schliefen wir und standen wir auf der Landstraße, bis die Sonne aufging. Da weckte mich der Hans. ›Resi!‹ sagte er. ›Um Himmels willen! Die Sonne kommt schon herauf‹ Das war ein Schreck!«
»Schalt dein Vater?«
»Wir sagten’s ihm nicht.«
Rosa hatte aufgehört zu arbeiten. Bilder gelber Ebenen tauchten vor ihr auf – graue, kühle Morgendämmerung; in der Ferne ein Kirchturm und Häuser; ein schläfriges Pferd, struppig und nass vom Morgentau; eine trübe brennende Laterne, die unter dem Wagen baumelt. Ja, sie sah das ganz deutlich vor sich und dachte: »Es muss behaglich sein, so im Halbschlummer über freies, stilles Land zu fahren. Der Morgenwind streift eilig über den Schläfer hinweg, die Erdäpfel duften nach feuchter Erde – und die Welt, ein friedlicher Traum, dämmert in den Schlaf hinein – ohne Gedanken, ohne Qual; eine große, sorglose Ruhe.« Rosa schloss halb die Augen; es war ihr, als spürte sie die Bewegung des Wagens.
»So!« meinte Agnes und wischte das Messer an ihrer Schürze ab. »Nun gehe ich ans Kochen.«
»Und wenn ihr nach Hause kamt, was aßt ihr dann?« fragte Rosa.
»Was gerade da war. Erdäpfel – Hering; manches Mal hatte die Mutter Speck für meine Erdäpfel aufgehoben, aber das war selten.«
»Aßt du das gern?«
»Freilich! Ich schnitt ein Loch in jeden Erdapfel und legte den Speck hinein. Sehr gut war das!«
»So? Ich würde das heute gern essen.«
»Das gerade?« – »Ja.« – »Nun, das kann man bald haben.«
Während Agnes in der Küche ab und zu ging, dachte Rosa an Agnes’ Erzählung. Wie ein Ausweg war’s, den sie gefunden – ein friedliches Feld, auf dem ihr nichts begegnen konnte, das wie ein Vorwurf aussah.
Herr Herz kam auch in die Küche. »Ah! Ihr seid hier beisammen!« sagte er ein wenig erstaunt. »Ja, hier ist’s besser«, meinte Rosa und lächelte ihren Vater matt an. »Hm!« dachte Herr Herz, »diese Agnes versteht den Fall zu behandeln. Nun lacht das Kind schon.« – »Schön – schön«, sagte er und rückte einen Stuhl vor das Feuer.
»Bist du einmal in Tiglau gewesen, Papa?« fragte Rosa.
»In Tiglau? Ja – mir ist so.« Herr Herz dachte ernstlich nach, besorgt, dieser so unerwartet sich einfindende, unverfängliche Gesprächsstoff könnte an seiner Unwissenheit scheitern. »Warte! Vor sehr langer Zeit bin ich dort durchgefahren. Ich glaube, es war ein verteufelt unscheinbares Nest. Wir wollten dort etwas essen, aber ein Gasthaus war nicht aufzutreiben.«
»Sie hätten nur fragen sollen. Jedes Kind in Tiglau zeigt Ihnen den ›Roten Hirsch‹ – dort bekommt man genug zu essen«, versetzte Agnes gereizt. Herr Herz rieb sich verwirrt die Waden. Er begriff nicht recht, warum Rosa ihn nach Tiglau fragte und warum Agnes diesen Marktflecken, an den sonst niemand dachte, so streng in Schutz nahm. »Das ist möglich«, sagte er schnell, weil er fürchtete, Rosa verletzt zu haben. »Es ist lange her, dass ich dort war – wie gesagt.«
»Agnes hat mir von Tiglau erzählt«, erklärte Rosa. »Du weißt, sie ist aus jener Gegend.«
»Richtig!« Herr Herz entsann sich jetzt. Seine Schwester Ina hatte davon gesprochen. »Eine Schwester von dir lebt dort, nicht wahr? Die Frau Böhk. Sie schrieb mir nach dem Tode des Fräuleins.«
»Freilich«, bestätigte Agnes, »das selige Fräulein hat meine Schwester noch unverheiratet gekannt.«
»So, so! Und wie geht es der Frau Böhk? Hat sie viel zu tun?«
»Zu tun gibt es genug. Sie ist die einzige Hebamme der Gegend.«
»Hat sie selbst auch Kinder?« Herr Herz war entschlossen, dieses Thema nicht fallen zu lassen. Agnes musste erzählen: Frau Böhk hatte einen Sohn, dann hatte sie noch zwei Waisen – Töchter jenes Hans, mit dem Agnes zu Markte gefahren war – zu sich genommen. Gute Mädchen, ein wenig wild.
Auf Rosas Wunsch wurde das Nachtmahl in der Küche eingenommen, und während sie ihre Erdäpfel mit Speck aß, drängte sie Agnes, von Tiglau zu erzählen. Agnes hatte bisher nie von ihrem Geburtsort, von ihrer Jugend, von ihren Verwandten gesprochen, heute aber wollten Rosa und ihr Vater von nichts anderem hören, alles mussten sie wissen. So erfuhren sie denn, dass Frau Böhk früher hübsch gewesen, jetzt aber zu stark geworden sei, dass sie Herrn Böhk zum Leidwesen ihrer Familie geheiratet hatte, denn er war klein, dünn, schwächlich, schwarz wie ein Jude – zwar ein gelernter Uhrmacher, aber voll toller Ideen, an ordentliche Arbeit nicht heranzukriegen.
Als das Nachtmahl beendet war, schien das Eheleben der Böhks erschöpft zu sein, und während Agnes das Geschirr wusch, ging sie zum Hebammenexamen ihrer Schwester über. Die arme Frau hatte ein dickes Buch mit Bildern, die einem wehtaten, wenn man sie anschaute, durchstudieren müssen. Endlich, als die häuslichen Geschäfte abgetan waren und man ruhig um das Herdfeuer saß, kam Frau Böhks Hebammentätigkeit an die Reihe. Geschichten von den Leiden armer Mütter, von der Kraft und Geschicklichkeit der Frau Böhk – und seltsam war es, wie sorglos Agnes heute von Dingen sprach, die sie sonst vor Rosa nie nannte, »weil sie eben nicht für Kinder sind«.
Es war spät geworden, als die drei noch immer in der Küche saßen, eng aneinandergedrängt im warmen Raume, über den das unruhige Licht des Herdfeuers hinflatterte.
Wie die Hausgenossen sich eng aneinanderdrängen, wenn nebenan – im dunklen Zimmer – ein Toter liegt, So saßen Rosa, ihr Vater und Agnes beisammen, und keiner hatte Lust, in die anderen Zimmer hinüberzugehen, es war, als suchten sie in der Küche Schutz vor etwas, das sie dort – im Wohnzimmer – anfallen könnte.
Rosa blickte jedesmal ängstlich auf, wenn Agnes gähnte. Sie fürchtete, Agnes würde schlafen gehen, und die lange, qualvolle Nacht würde beginnen. Es war schon Mitternacht vorüber, als Herr Herz den Vorschlag machte, sich zur Ruhe zu begeben. Agnes ging bereitwillig darauf ein, ja, sie freute sich sichtlich darüber; Rosa aber schien es, als stießen ihr Vater und Agnes sie gleichgültig in das Dunkel einer einsamen, peinvollen Wanderung hinaus – nur weil sie ein wenig schläfrig waren. Sie fand das herzlos und ging – schwer seufzend – in ihre Kammer, um sich wieder mit ihrem wirren, unklaren Schmerz auseinanderzusetzen.
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