»An so etwas!« erwiderte Sally, das Gesicht tiefer in die Schachtel steckend.
»Warum nicht?« fuhr Toddels fort, leidenschaftlich in Sallys Halskragen hineinsprechend. »Eine Heirat aus Neigung war immer mein Traum. Was – Fräulein Sally?«
»Ich glaube eben an die Liebe«, sagte Sally fest. Sie hatte es sich längst vorgenommen, im großen Moment ihres Lebens diesen Satz recht häufig anzubringen. Toddels fasste ihn als Ermutigung auf, er berührte mit dem Mittelfinger zart Sallys Hals und hauchte: »Mein holdes Weibchen.«
»Noch nicht!« wandte Sally schelmisch ein. Sie lehnte ihr erhitztes Gesicht an die Brust des Geliebten und blickte ernst zu den Wollenstoffen auf.
»Ha – ha? Noch nicht!« lachte Toddels gepresst, denn Sally drückte ihm mit ihrem Kopf einen Hemdknopf tief ins Fleisch. »Allerdings! Aber bald. Nicht wahr, mein – mein?«
»Sprechen Sie mit meinem Papa«, die feuchten Blicke aufwärts gerichtet, den Kopf fest an Toddels’ Hemdknopf gedrückt, sprach Sally diese Worte langsam und feierlich. Ach, wie hatte sie sich gesehnt, sie sprechen zu dürfen.
»Ja, Fräulein Sally«, meinte Toddels zögernd. »Ich fürchte nur, Herr Lanin wird böse werden. Er ist zuweilen ein wenig kurz mit mir. Vielleicht könnten Sie…«
»Wir werden alle Hindernisse überwinden. Ich glaube, wie gesagt, an die Liebe.«
»Gewiss – gewiss! Ich auch, mein Herzchen. Gut also! Du wirst es deiner Mutter sagen. Wir bleiben uns jedenfalls treu. Schön – abgemacht.« Und nun empfingen Sallys dünne, jungfräuliche Lippen den ersten Liebeskuss, einen sehr lauten Kuss, der süß nach Rosenpomade duftete. »Lebe wohl, meine Braut«, sagte Toddels. »Die Leute gehen schon in den Stadtgarten. Heute ist dort zum letzten Mal im Jahre Musik«, mit diesen Worten schlüpfte er hinter den Ladentisch.
Sally stand mit klopfendem Herzen da und konnte sich nicht entschließen, ihre erste Liebesstunde für geschlossen zu erklären. Sie glaubte noch etwas Schönes, Tiefempfundenes sagen zu müssen, es fiel ihr jedoch nur immer wieder ein, dass sie an die Liebe glaube. Das mochte sie nicht mehr wiederholen,
Toddels hatte unterdessen ein Stück des grünen Bandes abgeschnitten und reichte es seiner Geliebten. »Das Band, das uns verbindet«, fügte er hinzu.
»Und kostet?« fragte Sally lächelnd.
»Einen Kuss«, erwiderte der Kommis mit gespitzten Lippen. Da ward Sally wieder der kleine, neckische Brausewind.
»Setzen Sie den auf die Rechnung«, rief sie und lief mit ganz kleinen Schritten zur Türe.
»Behalte nur das Band, ich zahl es schon«, meinte Toddels. »Grün ist ja die Farbe der Hoffnung.«
»Da haben Sie recht«, erwiderte Sally ernst. Sie fand dieses Abschiedswort wirklich tief. Dann noch eine Kusshand – und sie war fort.
Die Scharen, die zum Stadtgarten strömten, belebten die Straßen. Die scharfe Luft machte alle Mädchenwangen rot und beschleunigte die Schritte. In den geöffneten Ladentüren lehnten Kommis, damit auch etwas von dem heiteren Leben draußen zu ihnen in den dumpfen Ladenraum dringe. Die Fleischerburschen – dort an der Ecke – wickelten ihre nackten Arme in die blutigen Schürzen, pfiffen und stießen sich mit den Schultern.
Sally ging schnell und leichtfüßig dahin. Sie brauchte niemanden mehr zu beneiden und fühlte sich gehoben und glücklich. Hatte sie nicht Liebe und Poesie gesucht? Nun – sie war zu Paltow ins Geschäft gegangen und hatte sie sich geholt. Befriedigt wie nach einem gelungenen Einkauf, wollte sie jetzt ein wenig Musik genießen.
Die lustig plaudernden Spaziergänger nahmen alle ihren Weg über den Marktplatz, am Laninschen Hause vorüber zum Stadtgarten, und alle sprachen von Rosa Herz. Die Schankschen Schülerinnen flüsterten miteinander über den Fall, die Augen verwundert aufgerissen, heimlich kichernd. Die furchtbare Liebes- und Entführungsgeschichte gehörte ja ihnen, hatte sich fast in der Schulstube abgespielt. Die Herren vom Gerstensaft-Strauß stellten sich mitten auf den Marktplatz – die Hände in den Hosentaschen, die Zigaretten im Mundwinkel – und scherzten über den Vorgang. Der Tellerat war ihr Bekannter, ein fixer Kerl, der Tellerat! Sie lachten mit aufgeblasenen Backen und wandten sich nach den Vorübergehenden um, stolz auf ihre eigene Munterkeit.
Frau Lanin stand vor ihrer Haustüre und sprach mit der Gewürzkrämerin von nebenan, einer kleinen hageren Frau mit rotgeränderten Augen, die immer Trauer und nie einen Halskragen trug. Nur durch die halbgeöffnete Türe verkehrte Frau Lanin mit der Witwe Tanke, denn diese gehörte nicht zur guten Gesellschaft. Sie wusste aber alles, was vorging, und besaß eine so klare, unumwundene Art, sich auszudrücken, einem jeden jedes zuzutrauen, dass Frau Lanin oft solch ein Plauderstündchen an der Haustüre veranlasste. Heute konnte Frau Tanke genaue Nachrichten über die jüngsten Ereignisse geben. Sie hatte den Juden, Ida, die Jüdin ausgefragt. Sie wusste, dass die Trödlerwohnung für Rosa geschmückt worden war, wusste, wann Rosa zu kommen, wann sie zu gehen pflegte.
Klappekahl und Dr. Holte unterhielten sich auch über Rosa, während sie langsam nebeneinander hergingen. Der Doktor hatte alles vorhergesehen, alles, »vermittelst einer physischen Diagnose – verstehen Sie«. Klappekahl hatte hundert ähnliche Fälle erlebt – in der Großstadt natürlich. »Aber sie sieht brillant aus, die Rosette«, wiederholte er immer wieder und leckte sich die Lippen.
Wenn die Leute an der Herzschen Wohnung vorübergingen, blieben sie einen Augenblick stehen, schauten zu dem geöffneten Fenster des zweiten Stockes empor – und dort oben, zwischen den weißen Vorhängen, zwischen den Geraniumstauden, schimmerte es wie das Stück eines blonden Zopfes hervor. Einer zeigte es dem anderen. »Das ist sie.« – »Sie irren, das ist nur der Widerschein der Sonne.« – »Nein doch! Ich seh es zu genau. Es bewegt sich ja. Sie ist es, wenn ich’s Ihnen sage.«
Sally aber konnte jetzt zu dem blonden Gegenstande zwischen den Geraniumblättern mit ungemischter Verachtung hinaufblicken.
Die Leute auf der Straße sahen ganz recht – Rosas Zöpfe waren es, die zwischen den Vorhängen hervorschimmerten. Sie selbst saß am Fenster, den Rücken an die Fensterbank gelehnt, die Füße einen über den anderen gelehnt und von sich gestreckt. So hatte sie den ganzen Tag über dagesessen, mit klaren, weit offenen Augen auf die gegenüberliegende Wand blickend, die Lippen sehr rot in dem weißen Gesicht.
Читать дальше