Verlegen blieb Sally an der Türe stehen. Auch hier, wo sie das schöne Ereignis ihres Lebens suchte, fand sie dieselbe öde, alltägliche Stille, der sie im Laninschen Wohnzimmer entflohen war. Enttäuscht wollte sie umkehren, als Toddels erwachte, sich hastig aufrichtete und ihr, vom Schlaf ein wenig entstellt, zulächelte.
»Oh, Fräulein Lanin! Welch seltene Ehre! Womit kann ich dienen?«
Und die Hand zart an die Lippen legend, gähnte er diskret.
»Ich störe«, sagte Sally und machte einige unschlüssige Schritte zum Ladentisch hin. »Ich wollte nur um einen halben Meter grünes Band bitten.«
»Sie, Fräulein Sally, können nie stören«, erwiderte der Kommis galant und langte eine weiße Schachtel unter dem Ladentisch hervor, öffnete sie jedoch nicht, sondern streichelte sanft den Deckel. »Sie sind recht grausam, Fräulein!« sagte er gefühlvoll.
»Ich? Wieso?« Sally war wieder im rechten Fahrwasser der kurzen, bedeutungsvollen Redensarten, bei denen man den Kopf zur Seite neigt und unter den halb niedergeschlagenen Augenlidern hervorschielt. Das war ihr Fach.
»Ja – grausam«, fuhr Toddels fort und schob sich seine Locken zurecht, die er im Schlaf zerdrückt hatte. »Denn Sie haben es mich gleich empfinden lassen, dass Sie mich schlafend angetroffen.« Sally spielte nachdenklich mit ihrem Portemonnaie; Toddels aber seufzte, sah zur Decke empor – er glaubte, entschuldbar zu sein. Fräulein Lanin verstand ihn vielleicht. Sein Los war nicht glücklich! O nein! Das ewige Einerlei seiner Beschäftigungen ertötete seinen Geist. Er liebte Literatur und Kunst; er schwärmte dafür.
»Besonders Literatur!« schaltete Sally ein und versuchte den Deckel der Schachtel aufzuheben. Toddels’ Hand aber lag fest auf ihm, während er selbst auseinandersetzte, wie eng und beschränkt sein Prinzipal sei – voll kleinlicher Schikanen. Wenn Toddels um einige Minuten zu spät ins Geschäft kam, mein Gott – er las die Nächte hindurch –, gleich gab es eine Nase. Der gefühlvolle Märtyrerton, in dem er bisher gesprochen hatte, ging allmählich in das leise, hastige Flüstern eines Untergebenen über, der schlecht von seinem Herrn spricht. Sally nickte mitleidig. Ging es ihr denn besser? Ward sie vielleicht verstanden? Ach, sie begriff es mit jedem Tage mehr, dass das Leben nur ein Possenspiel sei! Ja, Toddels gab ihr recht. Er war auch Pessimist. Er glaubte ans Nirvana. »Und ich glaube an die Liebe«, versetzte Sally und öffnete ihr Portemonnaie. An die Liebe? Oh, an die glaubte er auch; natürlich! Er kniff die Augenlider zusammen und lächelte bei dem süßen Worte. »Ja – ja«, sagte er nach einer kleinen Pause und öffnete müde die Schachtel. »Grünes Band wünschen Sie, Fräulein?«
»Ja, grün ist meine Lieblingsfarbe, die Farbe der Hoffnung«, versetzte Sally und prüfte mit dem Finger das Band in der Schachtel.
»Hoffnung – natürlich!« entgegnete Toddels und befühlte auch seinerseits das Band. So standen sie über die Schachtel gebeugt und wussten nichts rechtes mehr zu sagen.
Endlich ließ Toddels das Band fahren, und er fasste behutsam mit dem dritten und Zeigefinger Sallys kühle, spitze Finger, als nähme er mit einer Zange ein Stück Zucker. Sally überließ steif ihre Finger dieser Zange. Jetzt kam auch für sie die Poesie des Lebens, das fühlte sie wohl. Die Stille des Ladens hatte, ihrem Gefühl nach, etwas köstlich Lüsternes – der Geruch von Wollenstoffen und frischer Pappe stieg ihr angenehm zu Kopf. Sie hätte gewünscht, lange – lange so stehen zu dürfen – über den gelben Ladentisch gebeugt – im Strahl der untergehenden Sonne – ihre Finger gehalten von Toddels’ Fingern. Es kam jedoch zu nichts. Toddels ließ Sallys Hand plötzlich fallen und fragte: »Passt die Breite?«
»Ja, ich denke.«
»Wieviel doch?«
»Einen halben Meter.«
Die Eingangstüre knarrte, und Fräulein Katter trat in den Laden, gefolgt von ihrem Dachs. Toddels war entrüstet – er stützte die geballten Fäuste auf den Tisch, schlug mit den Füßen aus und fragte, so rau, als es seine Stellung ihm erlaubte: »Sie wünschen?«
Fräulein Katter ging auf diese Frage nicht sogleich ein; freundlich sagte sie: »Guten Abend, Herr Toddels. Sehen Sie doch, wie der Max bei Ihnen herumsucht. Er glaubt, hier muss irgendwo Zucker versteckt sein. Hier ist kein Zucker, Maxchen – mein kleiner, kleiner Hund. Was, Sie hier, Sallychen? Einkaufen – wie?« Sally grüßte in ihrer mädchenhaft zurückhaltenden Weise; Fräulein Katter aber trat nahe zu ihr, legte ihre Hände in den grauen Halbhandschuhen auf Sallys Arm und fragte leise: »Also mit Rosa Herz – ist’s wahr?«
»Ja –« Sally zog die Augenbrauen empor, zum Zeichen, dass die ganze Geschichte sie nichts anging. »Wenigstens wurde es gestern auf der Soirée bei Klappekahl erzählt.«
»Schrecklich!« meinte die alte Dame. »Also fortlaufen wollte sie mit ihm. So weit waren sie schon miteinander? Ist so etwas erhört!« Das weiche, gebogene Kinn wackelte zwischen den violetten Hutbändern vor Erregung. »Aber sagen Sie doch, Sallychen – Sie haben ja die Geschichte entdeckt – hör ich?«
»Ja«, sagte Sally kühl. Sie machte sich nichts aus diesem Ruhm.
»So – so. Nun was sahen Sie«, fuhr Fräulein Katter fort. »Geküsst haben sie sich – natürlich, das hab ich schon gehört. Aber hat er sie auch so – angepackt, wissen Sie?«
Sally wusste es nicht. »Ich kümmere mich um diese Dinge nicht.«
»Selbstverständlich! Ein so gut erzogenes junges Mädchen! Aber entsetzlich ist doch die ganze Geschichte. Was wird nun aus der Armen?«
»Wer kann das wissen!« Sally zuckte die Achseln – es war ihr gleichgültig. Sie schielte nach ihrer Nase, um zu sehen, ob diese nicht rot sei – das war ihr wichtiger.
»Der Schank«, meinte die alte Dame, »wird die Geschichte zu Herzen gehen. Ich bin auf dem Weg zu ihr.«
Da Sally sich ostentativ dem grünen Band zuwandte, musste Fräulein Katter sich zu Toddels bemühen, um von ihm einen Meter Madapolam zu begehren. Sie war sehr genau. Toddels musste immer wieder die Leiter hinansteigen und neue Stücke herabholen. Er war bleich vor Zorn, schlug mit dem Meterstock klatschend auf die Stoffe und bemerkte streng: »Sehr feine Ware. Einen besseren Stoff wird die Dame schwerlich finden.« Die Dame jedoch konnte sich nicht entscheiden; sie wollte wiederkommen. »Sehr wohl«, rief Toddels erleichtert, bog gewandt und gelenkig um die Ecke des Ladentisches und öffnete Fräulein Katter die Türe.
»Komm, Maxchen, mein kleines Tier. Grüßen Sie Ihre liebe Mutter – Sallychen. Guten Abend, Herr Toddels. Das eine Stück hat mir nicht ganz missfallen.« Damit war das alte Fräulein fort. Sally schaute sich nicht um. Sie hörte, wie Toddels mit den Füßen scharrte, die Türe schloss – jetzt knarrten seine Stiefel ganz leise. Er stand neben ihr, das fühlte sie. Nun musste es doch zu etwas kommen. Richtig! Etwas Heißes, Feuchtes berührte ihren Nacken. Das war also ein Kuss – gut! Toddels legte seinen Arm um Sallys schlanke Taille und drückte sie so fest, dass das Mieder krachte. »Ich habe schon oft an die Ehe gedacht. Sie nicht auch?« flüsterte er mit vor Aufregung rauer Stimme.
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