Rosa ward es so weich um das Herz, dass sie am liebsten geweint hätte, das Wort »morgen« jedoch erschreckte sie. »Um Gottes willen, dass dieser schreckliche Montag der Auseinandersetzungen sie nur ja nicht hier findet!« schrie es in ihr auf, und schnellentschlossen sprach sie von der Klappekahlschen Gesellschaft: »Du gehst ja heute zu Klappekahl.«
»Ah so – ja. Klappekahl sprach heute wieder davon. Ich denke aber, ich bleibe zu Hause, wie?«
»Du müsstest doch vielleicht hin«, wandte Rosa ein.
»Warum – Kind? Ich bin nicht in der Stimmung. Bleiben wir beieinander, solange es geht.«
Rosa musste sich abwenden, als sie leise darauf erwiderte: »Besser wäre es doch, du gingst hin. Wir müssen tun, als wäre nichts geschehen.«
Herr Herz verstand seine Tochter nicht recht, er sah aber, wie schwer es ihr ward, ihren Vorschlag vorzubringen, und hätte darum am liebsten gleich alles erraten. »Ja – ja; natürlich! Vielleicht muss ich doch hin. – Nur weiß ich nicht recht… Ich dachte es mir so hübsch, den heutigen Abend mit dir zu verbringen. Wir wären so lustig wie möglich, und ginge es mit der Lustigkeit nicht, so wäre ich doch wenigstens bei dir.« Rosas Augenbrauen zuckten ungeduldig. – »Aber, du meinst – – Nun gut, ich gehe hin.« Er seufzte und machte ein betrübtes Gesicht. Rosa versuchte ihn zu trösten: »Siehst du, wir dürfen nicht tun – als – als – schämten wir uns. Und dann – ich habe heute nacht nicht schlafen können und daher Kopfweh. Ich wollte mich früh niederlegen. Du wärst also doch allein. Morgen aber…« Sie musste schnell ans Fenster gehen und hinausschauen. Nun ward Herr Herz besorgt. Was? Rosa war krank? Natürlich musste sie sich früh niederlegen. Und – wo blieb das Essen? Hunger erhöht das Kopfweh. Er rief nach Agnes, nach der Suppe.
Nach dem Mittagessen brach wieder einer jener stillen Nachmittage an, wie Rosa deren so viele erlebt hatte; der letzte – sagte sich Rosa heute.
Herr Herz schlummerte in seinem Sessel. Goldene Lichter zitterten über die Wand und den Fußboden hin; der Wind schüttelte an den Vorhängen. Von der Straße tönten Stimmen und Schritte herauf. Im Stadtgarten spielte die Musik, und zuweilen drang ein lustiges Aufschmettern der Hörner bis in die Herzsche Wohnung. Gegenüber, scharf von dem Rücken des Raserschen Daches abgeschnitten, stand das Stück tiefblauen Himmels, das Rosa stets blauer als der übrige Himmel erschienen war; die Schwalben schossen darüber hin und sandten sich ihre schrillen, lustigfreien Rufe zu.
Rosa lag im Fenster und schaute zu, wie die Leute zum Stadtgarten strömten. Lauter bekannte Gesichter, Menschen, die Rosa von Kindheit auf gesehen hatte – und doch! – wie fremd waren sie ihr jetzt. Gleichgültig gingen sie einher, sprachen, lachten, als hätte es für sie nie eine Rosa gegeben; in ihrem Leben hatte sich nichts geändert. Zum ersten Male stieg in Rosa der Gedanke auf, wie doch der Mensch in furchtbarer Einsamkeit mit sich selbst eingeschlossen ist. Ganz allein! – Sie warf ihren Kopf zurück und schaute aufmerksam sinnend über das Dach des Pfarrhauses hin. Was doch der heutige Tag für ungewohnte, bunte Gedanken brachte! Aber es ward ihr jetzt klar; was wusste denn einer vom andern? Da schlief ihr alter Vater bleich und kummervoll in seinem Sessel und ahnte nichts von den kühnen, abenteuerlichen Unternehmungen, die, kaum einen Schritt von ihm entfernt, seine Tochter plante, nichts von dem Schmerz, der fertig neben ihm stand. Nein, überall gesperrte Türen.
Rosa blickte wieder auf die Straße nieder. Es unterhielt sie jetzt, den Leuten nachzuschauen und sich bedächtig zu sagen: »Wie die sich den Arm reichen! Wie kameradschaftlich sie tun! Was hilft’s! Sie mögen sich noch so eng aneinanderschmiegen, es bleibt doch ein jeder allein – allein – allein«, dieses Wort hing sich an jede Person; es ward zum eigensinnigen Traum, der jede Gestalt verzerrt, und mitten im hellen, munteren Tageslicht beschlich es Rosa wie Grauen. Sie wollte aber nicht einsam sein; sie fürchtete sich. Wäre doch Ambrosius da; der liebte sie, vor dem brauchte sie sich nicht zu verbergen. Wenn man geliebt wird, ist man nicht allein, nicht wahr? Das ist eben die Liebe. – Sollte sie zum Trödler hinübergehen? Nein! Das durfte sie nicht. Dann wollte sie sich wenigstens auf das Wiedersehen mit Ambrosius vorbereiten; sie freute sich darauf und sehnte es herbei. Sie mochte nicht allein sein.
Sie ging in ihr Zimmer und setzte sich an den Schreibtisch; der Brief an den Vater musste geschrieben werden. Einige Augenblicke saß Rosa vor dem Briefbogen, den Federhalter an den Lippen, und dachte nach, dann tauchte sie die Feder in die Tinte und schrieb – ruhig, in einem Zuge – den Bogen voll. Durch die halb angelehnte Türe hörte sie die tiefen Atemzüge ihres schlummernden Vaters; dennoch zitterte ihre Hand nicht im geringsten beim Niederschreiben dieser Zeilen, in denen jedes Wort ein Stich in das gute alte Herz sein musste, das jetzt – dort nebenan – so ahnungslos schlug.
»Liebster Papa!« hieß es in dem Brief, »wenn Du dieses liest, bin ich schon weit von Dir, ich hoffe, nur für kurze Zeit. Sie wollen mich hier nicht mehr; gut! Ich gehe. Ambrosius und ich lieben uns innig, und niemand soll uns scheiden. Wenn wir unlöslich verbunden sind, kommen wir wieder und holen Dich ab, damit Du unser Glück teilst. Wenn ich daran denke, wie selig wir zusammenleben werden, möchte ich aufjauchzen. Agnes muss auch mit. Dass ich heimlich fortgehe, verzeihst Du mir, lieber – lieber Papa, es ist zu meinem Glück nötig, denn dass ich glücklich werde, das verspreche ich Dir. Viele tausend Küsse. Auf baldiges frohes Wiedersehen. Deine treue Tochter Rosa. Sonntag, den 25. September.«
Rosa machte einen hübschen, sorgsamen Schnörkel unter ihren Namen, faltete das Blatt zusammen, schrieb »an Papa« darauf, steckte es in die Tasche.
Es war vier Uhr. Wie fern der Abend noch war. In fünf Minuten konnte sich noch soviel Störendes ereignen. Rosa packte ihre Habe in den Reisesack, verschloss ihn und versteckte ihn unter ihrem Bett. Das Reisekleid, Hut und Mantel legte sie zurecht. Alles war bereit. Nun zog sie sich das Kleid, das sie anhatte, aus und legte sich auf ihr Bett. So war es noch am leichtesten, den Abend zu erwarten. Rosa hätte jetzt vieles erleben, tun, unternehmen mögen und musste stillehalten wie ein krankes Kind. Nebenan regte sich der Vater – seufzte tief auf – begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Oh, den wollte Rosa glücklich machen – den armen Papa! – Jetzt schloss er den Kasten auf, um den schwarzen Rock hervorzuholen – jetzt bürstete er seinen Hut. Rosas Herz ward immer weicher, sie preßte ihr Gesicht in die Kissen und musste es sich immer wieder sagen, wie glücklich sie den armen Papa machen wollte.
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