Lurch stand traurig und beschämt da; er wusste nicht, wie er sich jetzt benehmen sollte – darum verbeugte er sich höflich; Rosa aber riss das Wechselblanquet vom Tisch, um sich draußen – im Hof – weinend und lachend Ambrosius in die Arme zu werfen.
Lurch stand noch eine Weile da und strich sich liebkosend über die Lippen, dann griff er nach seinem Hut und schlich durch den Laden auf die Straße hinaus.
»Was ist denn passiert?« fragte Ambrosius besorgt, aber Rosa wollte es ihm nicht sagen. Sie erklärte nur, die Demütigung sei zu groß gewesen.
»Lass es gut sein«, meinte er. »Du hast es mir zulieb getan. Jetzt können wir reisen. Was geht uns der dumme Lurch an? So weine doch nicht; wir brauchen ruhige Überlegung. Der Würfel ist gefallen, sagt schon ein alter Römer.«
»Ja, ich weiß es – Cäsar«, schluchzte Rosa, und doch lachte sie wieder.
»Siehst du es wohl«, versetzte Ambrosius heiter. Er begriff Rosas Aufregung nicht; nun er den Wechsel in der Tasche hatte, war seine Laune die allerbeste. »Komm Liebchen, beruhige dich. Wir dürfen keine Kindereien treiben«, und seine frische, unternehmende Art tat Rosa wohl. Das war wieder der lustige Stimmton, die sorglosen Augen, das hübsche süßliche Lächeln, die so verwirrend in ihr kindlich ruhiges Leben eingedrungen waren, um alle guten Lehren, Fräulein Schanks ganzen Erziehungsplan über den Haufen zu werfen und Rosas Köpfchen mit einem seltsamen Rausch zu erfüllen, in dem alles erreichbar und erlaubt schien. Seit sie Ambrosius liebte, hatte jenes rücksichtslose, alles wagende Gefühl sich ihrer bemächtigt, von dem einst die sechsjährige Rosa zu sagen pflegte: »Agnes, die Ungezogenheit steigt mir zu Kopfe.« Auch jetzt wieder fühlte sie in sich jenes unbändige Verlangen nach Verbotenem, und das Leben war nur noch ein schönes, heimliches Vergnügen, das man hastig und mit schlechtem Gewissen genießt – wie die Liebesstunde im Trödlerhause. Ja – diese Liebesstunde! Gestern hatte sie noch Rosa mit ratloser Traurigkeit bedrückt, heute erschien sie ihr wie etwas Süßes – etwas, über das man errötet, von dem man schweigt, das einem aber dennoch mit seltsamem Rückverlangen das Blut erhitzt.
Ambrosius gab Rosa die nötigen Verhaltungsmaßregeln für den Abend. Um neun Uhr sollte Ida an der Hintertreppe der Herzschen Wohnung Rosas kleinen Handkoffer in Empfang nehmen. Rosa selbst sollte – auf einem anderen Wege als Ida – sich durch den Stadtgarten zur Brücke begeben, und in der Nähe des Brückenkruges wollte Ambrosius mit dem Wagen sie erwarten. Der Plan war einfach genug. »Und dann, Amby – können wir endlich fort«, rief Rosa in der leidenschaftlich offenen Freude eines Kindes, dem man ein längst versprochenes Vergnügen endlich gewährt. So schieden sie, um sich erst am Abend beim Brückenkruge wiederzusehen.
Da der Vormittag noch lang war, beschloss Rosa, einen Gang durch die Stadt zu machen – zum letzten Mal – das gehört sich so. Die Tageszeit war günstig, denn eben erst hatten die Kirchenglocken den Gottesdienst eingeläutet. Nicht als ob Rosa sich vor einer Begegnung mit Sally oder Ernestine Klappekahl gefürchtet hätte! Nein! Will man aber Abschied von seiner Heimat nehmen, so bedarf man der Einsamkeit, nicht wahr?
Die Straßen und der Marktplatz waren leer, wie stets zur Kirchenzeit, nur in der Ferne sah Rosa das alte Fräulein Katter einhertrippeln; ihr Atlasmantel glänzte in der Sonne, der Dachs folgte ihr – breitbeinig und verstimmt – ab und zu die Nase in die Gosse steckend. Sie hatten sich heute beide mit dem Kirchgang verspätet.
Die große, gelb angestrichene Türe des Laninschen Ladens war gesperrt, selbst der Mohr auf dem Schilde davor schien zu schlummern. Oh, welch eine verächtlich blöde Trägheit brütete über diesem Hause. Rosa konnte es sich deutlich vorstellen, wie es dort heute zugehen würde: Die Zimmer voller Suppengeruch – Herr Lanin voll fader Geschichten, Frau Lanin mit ihrem langen, weichen Munde beständig gähnend – und Sally – – mein Gott, die Arme! Und während Rosa vor diesem Hause stand, stieg wieder die Freude – groß und unruhig in ihr auf. Sie brauchte dieses Leben nicht mehr zu teilen.
Sie ging weiter – überall dieselbe Stille. Die Häuser waren wohlverschlossen und wie ausgestorben, nur in den Küchen hörte man es klappern, oder hier und da stand eine Dienstmagd, die das Haus bewachen sollte, unter dem Hoftor, die Haare feucht an die Schläfen gekämmt, das Kamisol frisch gewaschen, und sprach mit einem Burschen. Die kleinen Ereignisse, die sich in der Stille der Kirchenzeit abspielen, das Kichern unter den Toren, das heimliche, vergnügte Treiben unbeaufsichtigter Dienstboten und Kinder hatten Rosa früher, wenn sie sich auf dem Gange in die Kirche verspätete, ein neugieriges Interesse eingeflößt. Heute kam plötzlich ein wunderliches Verstehen über sie, das sie quälte und ihr missfiel. Diese dicken, hochbusigen Mägde, diese plumpen, unreinlichen Burschen, sie hatten zwischen Kessel und Pfanne, zwischen Kohlstrünken und Salatblättern ihre Liebesgeschichten. Rosa begriff nun, was sie wollten, was sie trieben, und es schien ihr, als würde ihr eigenes Schicksal dadurch entweiht. Dieses aufdringliche Klarsehen machte sie traurig; sie seufzte; sie hatte sich manches doch schöner gedacht!
In den entlegneren Stadtteilen – am Fluss – sah es weniger feiertäglich aus. Die armen Leute hatten noch nicht Zeit gefunden, ihre guten Kleider anzulegen. Frauen mit ungekämmtem, wirr auf das missmutige Gesicht herabhängendem Haar standen in den engen Hofräumen und wuschen Erdäpfel oder Salat. Nackte Kinder sprangen zwischen den Schweinen und Hühnern umher. Hinter den morschen Bretterzäunen langten kümmerliche Apfelbäume mit ihrem eckigen Gezweige auf die Straße hinaus. Weiter hinab wurden die Häuser seltener. Kartoffelfelder und Weideland zogen sich am Flussufer hin; magere Pferde standen dort; die Hufe tief im roten Heidekraut, hielten sie im Grasen inne und nickten sinnend mit den Köpfen. Am Rande des steil abfallenden Ufers wollte Rosa ausruhen; sie legte sich nieder, den Leib im Grase, mit den Füßen in der Luft umherschlagend, den Kopf in die Hände gestützt, und biss an einem Halm. Unten lag der Sonnenschein, ein blankes Zittern auf dem träg rinnenden Wasser des Flusses.
Rosa blickte dem Rinnen des Wassers nach. Klare, festumrissene Gedanken wollten in ihrem Kopfe nicht mehr standhalten, nur ein wohliges Auf- und Abfluten von Bildern und Empfindungen regte sich in ihr. Sie kamen und brachen wieder ab, wie das Geigen der Feldgrillen ringsum im Grase – und es lag über ihnen ich weiß nicht welch unklare Traurigkeit, die einen seltsamen Frieden in sich barg. Die Ereignisse der letzten Tage, dieses beständige sich selbst Mut zusprechen, das Ringen mit unangenehmen Gedanken hatten Rosa müde gemacht, das fühlte sie plötzlich. Hier, am warm beschienenen Abhange, kam eine lähmende Erschlaffung über sie, die Kraft fehlte ihr, abzuwehren, festzuhalten, sie musste die Hände in den Schoß legen und achselzuckend sagen: »Es gehe, wie es geht.«
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