»Gleichviel!« Oh, jetzt begriff er alles, und er fürchtete sich. »Meinen Hut, Wulf!«
Der Jude lächelte sein geduldiges Lächeln. »Der Hut liegt dort auf dem Stuhl, Herr Lurch, aber von den zwanzig Minuten fehlen noch fünf. Versprochen ist versprochen.«
»Ach was!« rief Lurch und griff nach seinem Hut; als er ihn aber in der Hand hielt, drehte er ihn nachdenklich zwischen den Fingern hin und her. »Fünf Minuten, sagten Sie?« fragte er leise. Der Trödler nickte. »Die kann ich wohl noch abwarten«, beschloss Lurch endlich. »Ich muss vielleicht.« Langsam setzte er sich wieder. So ohne weiteres fortgehen, das konnte er nicht. Rosas Anblick hatte sein armes, verdrossenes Gemüt erschüttert, hatte es mit warmer, lichtvoller Aufregung erfüllt, die ihm noch in allen Gliedern nachzitterte. Und dann – sie wird ihn ja bitten, sie wird es versuchen, ihn zu überreden – sie – ihn! Lurchs Lippen brannten, und der Hals wurde ihm von innerer Rührung zugeschnürt. Sie – ihn bitten!
»Ein schönes Fräulein!« bemerkte Wulf »Ein wunderschönes Fräulein.«
»Ja!« stöhnte Lurch auf, fügte jedoch sogleich ein verdrießliches »Ziemlich« hinzu. Die fünf Minuten waren längst verstrichen, und Lurch saß noch immer da und wartete.
Endlich kehrten Ambrosius und Rosa zurück. Rosa war ernst und zog die Stirne kraus, als wäre ihr etwas Widriges begegnet. In der Tat, sie verstand die ganze Lebenslage nicht, und sie war ihr fatal. Ambrosius sagte zwar, es sei nichts Schlechtes, was sie tun sollte. Lurch könne dabei nicht zu Schaden kommen, und es sei nur Eigensinn von ihm, dass er diese kleine Formalität nicht erfüllen mochte, obgleich alles von dieser Formalität abhing. Gut! Rosa begriff nur nicht, warum Lurch ihr gehorchen sollte. Wenn er es nicht tun wollte, was konnte sie dafür? – Er liebte sie. – Was? – Lurch liebte sie? Darüber konnte sie nur lachen. Lurch und Liebe!
Doch Ambrosius hatte sich geärgert, brachte Rosa es nicht zuwege, meinte er, dass Lurch den Wechsel unterschrieb, dann war es mit der ganzen Reise nichts. Über all diesen Widerwärtigkeiten hatte er ohnehin die Lust dazu verloren. Da gehorchte Rosa – ohne Widerrede – sofort –
Lurch blieb auf seinem Stuhl sitzen und vergaß es in seiner Aufregung, Rosa zu grüßen. Erst als sie ihm »Guten Morgen, Herr Lurch« zurief, erhob er sich ein wenig, setzte sich aber gleich wieder und klammerte sich an die Armlehnen des Sessels. Eine ungemütliche Pause entstand. Da machte sich Rosa mit einem plötzlichen Entschluss von Ambrosius’ Arm frei; da es sein musste, wollte sie ihren Auftrag ernstnehmen. Sie trat an Lurch heran und reichte ihm die Hand. »Wie geht es Ihnen, Herr Lurch?«
»Danke, Fräulein Rosa, mir geht es gut.«
»So.« Rosa schlug die Augen nieder, stützte ihren Mittelfinger so fest auf die Tischplatte, dass er sich bog, und sagte schnell: »Sie wissen, worum ich Sie bitten wollte?«
»Nein«, erwiderte Lurch erschrocken. »Oder doch – ja. Aber…«
»Bitte, tun Sie es.«
Lurch schüttelte mit dem Kopf.
Doch bat Rosa: »Mir zuliebe. Wollen Sie?«
»Ich kann nicht, Fräulein Rosa.« Lurch hob ein von Tränen und Jammer verzerrtes Gesicht zu Rosa auf. »Ich möchte ja gern, aber ich kann nicht.«
»Wenn Sie nur wollten.« Ein Sonnenstrahl traf Rosas Augen, dass sie klar und blau wie Glas schienen; dabei zog sie die Augenbrauen empor, was ihr einen erstaunten, lustigen Ausdruck verlieh. Was war nur dem Menschen? Warum zitterte er? Warum weinte er? Was hatte sie ihm getan? Rosa legte ihre Hand leicht auf Lurchs Schulter und wiederholte: »Bitte, tun Sie’s.« Lurch machte einen runden Rücken und preßte seine bleichen Lippen aufeinander. »Was?« sagte Rosa, hinter ihr knarrte eine Türe. Ambrosius hatte das Zimmer verlassen. Er konnte es nicht länger mit ansehen, er hätte Lurch schlagen müssen. Rosa aber ließ nicht nach. Die Leiden des armen Lurch erregten ihr Mitleid, und dennoch war etwas an ihnen, was Rosa reizte, sie immer wieder zu erneuen. »Wenn Sie mich ein wenig liebhaben«, sagte sie und drückte mit der Hand auf Lurchs Schulter, um zu sehen, wie dann ein nervöses Beben durch den ganzen dürren Körper lief.
»Ich kann es nicht!« brach Lurch endlich los. »Ich habe es Herrn von Tellerat schon gesagt. Ich habe nichts davon. Was hab ich davon? Sagen Sie selbst, Fräulein Rosa. Nichts hab ich davon.« In der Not seines Herzens knöpfte er sich wieder die Weste auf.
»Was Sie davon haben?« wiederholte Rosa zögernd und ein wenig befangen. »Sie haben allerdings nichts davon. Es wäre eben nur eine Freundlichkeit von Ihnen. Ich habe nichts, ich kann Ihnen nichts geben.« Sie hob beide Hände empor und zeigte ihre Handflächen. Lurch schwieg. Traurig starrte er auf die rosigen Handflächen. Er verstand es nur zu wohl; für ihn waren diese Hände immer leer. Plötzlich verlautete des Trödlers sanfte Stimme: »Für einen Kuss tut’s Herr Lurch schon.« Rosa wandte sich schnell um und ward feuerrot. »Pfui!« sagte sie. Auch Lurch war aufgefahren. »Nein«, stotterte er, »das tut Fräulein Rosa nie.«
»Gewiss nie«, bestätigte Rosa, ergriff einen ihrer gelben Zöpfe und drückte ihn an ihren Mund, als wollte sie diesen schützen. Sie fürchtete sich. Lurch blickte sie mit feuchtgelben Augen so unmenschlich starr an, und auf seinem Gesicht brannten rote Flecken. Den küssen! Sie wollte fortlaufen, und doch zögerte sie wieder. Was wird Ambrosius sagen, wenn sie nichts ausrichtet? Die ganze Reise, die ganze schöne Zukunft ging also in die Brüche? – »Schnell, schreiben Sie«, rief sie plötzlich, noch immer dunkelrot im Gesicht, die Augen voller Tränen. Lurch verstand nicht sogleich. »Wie, Fräulein Rosa…?« – »Fräulein Rosa will«, ermunterte ihn der Trödler, »das Geschäft ist abgemacht.« Er konnte es immer noch nicht glauben, Rosa aber stampfte mit dem Fuß auf. »Ja doch – schnell« – sie wandte sich ab – oh, sie schämte sich.
Endlich hatte Lurch begriffen. Mit zitternden Fingern ergriff er die Feder und malte vorsichtig seinen Namen auf den Papierstreif, spritzte die Feder aus, legte sie auf den Tisch, wischte sich die Lippen und war bereit. »Ich habe geschrieben«, flüsterte er. Rosa fuhr zusammen, richtete sich aber gerade auf, stellte sich vor Lurch hin, bog den Kopf zurück und schloss die Augen; dabei ward sie bleich bis in die Lippen und sah aus, als schliefe sie und habe einen sehr bösen Traum. Ängstlich lächelnd stellte sich Lurch auf die Fußspitzen – reckte den Hals – blickte mit zuckenden Wimpern auf das weiße Mädchengesicht nieder – spitzte den Mund und drückte ihn behutsam auf Rosas fest zusammengekniffene Lippen. Kaum fühlte Rosa diesen heißen Mund auf dem ihren, als sie aufschrie und zurücktrat. –
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