Wie das nur alles so kommen konnte. Unmerklich war es herangekrochen – nun war es da. Natürlich musste es so sein! Aber noch stand es fremd vor ihr wie etwas, an dem sie nicht teilhatte – sie, die friedliche Schanksche Schülerin, die jeden Morgen ihre große Mappe durch die Schulstraße geschleppt hatte. Rosa Herz, die nie die französischen Fabeln hersagen konnte und vor dem bevorstehenden Gouvernantenexamen zitterte, Rosa, die stundenlang zum Fenster hinausschaute und sich über das Gekicher auf dem Kirchenplatz ihre kindischen Gedanken machte, die sich um zehn Uhr niederlegte und vom Bett aus das schräge, mondbeglänzte Dach des Pfarrhauses anstarrte, bis ihr die Augen zufielen, diese ganz gewöhnliche Rosa liebte nun und ward geliebt; diese Rosa war jetzt die Person, vor der die Leute, die sie so gut kannte wie ihr Werktagskleid, ein Kreuz schlugen. Fräulein Katter, der Doktor, Ernestine, sie hielten sie für ein schlechtes Mädchen, mit dem man nicht sprechen darf. Sie war das verführte Mädchen; verführt – dieses Wort, das sie früher nicht aussprechen durfte, weil es unpassend war, nun gehörte es zu ihr, sie war jetzt eine unpassende Person. Was wohl Marianne darüber denken mochte? Und ob sie in der Schule nur ganz heimlich von Rosa sprechen durften, wie man sich sonst die dummen Geschichten erzählte, über die man errötete und kicherte? Rosa drückte die Augenlider zusammen und wiegte ihren Kopf schläfrig hin und her. Sie grämte sich über diese Dinge nicht, aber auch die Freude, in die sie sich hineingeredet hatte, war fort. Wer so daliegen könnte und abwarten. Es fließt ja doch vorüber, wie dort unten, immer zu, man braucht nur stillezuhalten. Dem müden Mädchen gefiel dieser Gedanke. Die lästige Arbeit, selbst am Leben mitzuwirken, schien unnötig, es fließt ja ohnehin vorüber! Im traumhaften Durcheinanderwogen der Vorstellungen folgte Rosa mit den Blicken dem Strom, als gehöre er zu ihr, als hinge für sie etwas von dem Rinnen dieses Wassers ab – fort – die Ufer entlang, an dem großen Stein hin, wo kleine Wellen flimmernd emporatmeten, an dem Kahn vorüber, in dem der stille Angler saß – weiter bis zu dem Erlengestrüpp, wo es sich schwarz unter die Zweige verkroch.
»Das ist der Tod«, sagte Rosa laut vor sich hin. Der Klang der eigenen Stimme machte sie aufschrecken, gleich wieder jedoch versank sie in Sinnen: »Tod!« – Dieses Wort atmete kühle Ruhe aus. Man streckt Hände und Füße von sich und ist tot. Sie bog den Kopf auf das Gras zurück, reckte die Glieder. »Ah, so muss es sein, ganz so!« Regungslos lag sie da, tief und regelmäßig atmend.
Der Ton der Kirchenglocken ließ sie auffahren. Sie erhob sich verwirrt; der Halbschlummer, in dem sie dagelegen, hatte sie weit aus der Gegenwart fortgeführt. Ohne deutliches Traumbild hatte sie doch das Gefühl gehabt, als lege sie mühelos ein beträchtliches Stück Leben zurück, sie ward eben mit fortgetragen. Jetzt, aus diesem Traumweben herausgerissen, schaute sie erstaunt um sich. Derselbe eintönige Singsang der Grillen, dasselbe sachte, zitternde Licht auf dem Abhange, derselbe verhängnisvolle Tag, den sie im Traum längst überstanden hatte, wartete auf sie. Mutlos ließ Rosa die Hände in das Gras sinken. Sie fühlte sich zu träge, ihre Geschichte von neuem aufzunehmen.
Früher, wenn sie ihre Schulaufgaben des Abends nicht beenden konnte, ließ sie sich von Agnes am nächsten Morgen ganz früh wecken, um das Versäumte nachzuholen. Wenn aber Agnes in der dunklen Winterfrühe an Rosas Bett trat und sie aufrüttelte, dann erschien ihr der Schlaf das höchste Gut. »Agnes«, flehte sie, »lass mich nur noch fünf Minuten schlafen.« Oh, diese kostbare Frist! Aber das Gewissen regte sich doch. Es träumte Rosa, sie verließ das Bett, kleidete sich an, begann den französischen Aufsatz zu schreiben. Wie leicht das ging! Jetzt war er fertig! »Rosa steh auf! Du bringst sonst den Aufsatz bis acht Uhr nicht fertig«, tönte Agnes’ Stimme in den schönen Traum hinein, denn nur Traum war es gewesen; das mühselige Aufstehen, das Frieren vor der Waschschüssel standen noch bevor; der ganze Aufsatz war noch zu schreiben!
An diese trüben Morgenstunden musste Rosa denken, und sie lächelte; die Schule und ihre Qual waren jedoch für immer vorüber. Sie sprang auf, der Abschied von der Heimat hatte sie weich gestimmt, das war hübsch und natürlich, nun war es aber auch genug. Die Freude an ihrer Liebe, ihrem bunten Schicksal wollte sie sich nicht verkümmern lassen. So wie es war, war es gut; so hatte sie es sich gewünscht. Sie war fest entschlossen, glücklich zu sein. Jeder Zweifel, der in ihr aufstieg, ward gewaltsam niedergedrückt. Sie wollte nicht enttäuscht und elend sein! – – –
Auf dem Marktplatze vor dem Laninschen Hause standen Fräulein Klappekahl und Fräulein Lanin in ihren schönen Sonntagskleidern und mit ihren neuen Herbsthüten. Sally faltete die Hände über dem schwarzen Gesangbuch und schüttelte im Eifer des Gesprächs die Locken. »Die heutige Predigt hat mir so recht das Herz aufgewühlt«, sagte sie, gewiss; wie oft hatte sie das nicht schon zu Rosa gesagt – dort an derselben Ecke!
Als Rosa an ihnen steif und hochmütig vorüberging, schlug Sally die Augen nieder, drückte das Gesangbuch fest an den Busen und sagte sehr laut: »Armes, verlornes Schaf!« Ernestine Klappekahl aber wandte ihren Blick von Rosa nicht ab. Rosa freute sich darüber. Hatte sie es doch selbst erfahren, mit welch heißem Interesse man aus dem Gefängnis bürgerlicher Zucht herausschaut auf alles, an dem etwas von den verbotenen, furchtbaren Dingen hängen mag, an die ein ordentliches Mädchen nicht denken darf. Ja – die lange dünne Ernestine beneidete das verlorene Schaf.
Zu Hause fand Rosa ihren Vater bleich und kummervoll im Lehnstuhl sitzen. Das verdroß sie; fasste er denn die Sache noch immer nicht richtig auf? Missmutig warf sie sich in einen Sessel und schlug mit den Handflächen auf die Armlehnen. »Ich habe also heute mit der Schank gesprochen«, bemerkte Herr Herz schüchtern.
»So!« erwiderte Rosa gleichgültig, dann aber erhob sie sich plötzlich; sie durfte diese jammervolle Stimmung nicht andauern lassen. Sie kniete bei ihrem Vater nieder, stützte ihren Kopf auf sein Knie und begann zu sprechen: »Weißt du, Papa, heute reden wir nicht davon. Morgen ist Montag, das ist ohnehin ein widerwärtiger Tag. Da können wir über die dummen Geschichten sprechen. Heute möchte ich Ruhe haben.«
»Gewiss, mein Kind!« erwiderte Herr Herz schnell. »Ich habe dich nicht quälen wollen; meiner Kleinen wehtun – ich – das wär kurios!« Er lachte, wie über einen lustigen, widersinnigen Einfall. »Heute also lassen wir das alles; was haben wir denn für Eile? Heute bleiben wir gemütlich beieinander – hier – in unserer Festung.« Er streichelte die Hände seiner Tochter und schaute sie liebevoll an. Ach, dass das Leben solch ein zuwidres, hartes Ding ist und selbst so schönen Wesen wie seiner Rosa die leidigen Schmerzen nicht erspart! »Lassen wir’s also gut sein. Heute das Vergnügen, morgen das Geschäft.«
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