Als die arme Zerline noch lebte, war dieser reiche, gutgekleidete, verliebte Herr der Fluch des Ballettänzers gewesen und hatte seine Ehe zu einer Hölle von Eifersucht und Kränkungen gemacht. Zerline lachte zwar darüber; er hatte sich jedoch nie in diese dummen Geschichten finden können. Der Schustermeister Herz hatte seinem Sohn einige schwerfällige Grundsätze mit auf den Weg gegeben, die diesem beständige Pein bereiteten in einer Welt, in der niemand solche Grundsätze gelten lassen wollte. Seiner Frau hatte Herr Herz längst alles verziehen, und er pflegte an sie mit sanfter Rührung zurückzudenken. »Deine Mutter«, sagte er oft zu Rosa, »war sehr schön, sehr munter und tanzte göttlich.« Es ergriff ihn, dass so muntere, göttlich tanzende Füßchen so früh unter die Erde kommen mussten. Heute aber, im Angesicht seines bleichen, schweigsamen Kindes, gedachte der alte Ballettänzer mit verbissener Wut der schönen Zerline. Trug sie nicht die Schuld, dass Rosa nicht war wie andere Mädchen? Rosa hatte nicht nur die blanken Augen und das plötzlich strahlende Lächeln von ihrer Mutter geerbt; es floss in Rosas Adern auch zuviel von dem heißen Blut der lustigen Tänzerin.
Herr Herz ging in die Küche hinaus. Er musste mit Agnes sprechen. Er setzte sich auf einen Stuhl, stützte die Ellenbogen auf die Knie und drehte sinnend einen Daumen um den andern. »Sie ißt nichts – sie spricht nichts –« sagte er leise, damit Rosa es nicht höre.
»Daran ist nicht viel!« meinte Agnes. »Man muss ihr Zeit lassen. Weil alles anders gekommen ist, als sie erwartet hat, so muss sie sich daran gewöhnen.«
»Ja, was sollen wir aber tun?«
»Warten wird wohl das beste sein.«
Herr Herz sah zur Decke auf. »Ich habe schon daran gedacht, den Klappekahl um Rat zu fragen; der schien mir…« Er brach ab und dachte nach.
Agnes stäubte den Tisch mit lauten, harten Schlägen des Staubbesens ab; plötzlich warf sie das Kinn empor und sagte scharf: »Was brauchen wir fremde Leute – und noch dazu den kribbeligen Apotheker? Was kann der raten? Die Leute mögen tun, was sie wollen; wir brauchen sie nicht. Wir werden nicht zu ihnen gehen, uns Kränkungen holen. Wir drei werden schon miteinander auskommen, mein ich. Kommt ein Schuft zu einem Mädchen und sagt: ›Ich will dich heiraten‹, so glaubt ihm das Mädchen. Wir Frauenzimmer glauben so was immer; wir sind so gemacht. Nun – und wenn er das Mädchen nicht heiratet – weil er eben ein Schuft ist – so geschieht’s dem Mädchen natürlich sehr hart, aber das geht vorüber; man muss abwarten können. Meine Schwester, die Hebamme in Tiglau, hat andere Mädchengeschichten mitangesehen. Sie sagt auch, es geht vorüber; nur Zeit ist nötig, wie bei jeder Krankheit.«
Herr Herz hörte aufmerksam zu. Es war vielleicht doch das rechte, sich in seine vier Wände einzuschließen wie in eine Festung. Was konnten die Leute ihnen anhaben? Agnes schien sich über den Fall ganz klar zu sein und sprach, als sei sie ihrer Sache gewiss. Gut, sie sollte recht behalten.
»Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig«, meinte er, erhob sich und ging in das Wohnzimmer zurück. Das Gespräch mit Agnes hatte ihn ein wenig beruhigt. Er setzte sich auf seinen Sorgenstuhl, vielleicht konnte er schlafen.
Rosa saß noch immer am Fenster – sehr elend, aber verhältnismäßig ruhig. Die stillen, kummervollen Stunden, die seit heute morgen verflossen waren, gehörten doch nicht zu dem nichtssagend einförmigen Leben, das Rosa mit Angst kommen sah – »das Leben ganz wie früher« –, es lag über ihnen eine gewisse Feierlichkeit. Dieser Montag war kein gewöhnlicher Werktag, denn er brachte dem armen Kinde die Neuheit eines großen Schmerzes.
Nun kamen die Abendstunden – das rote Flackern auf den Wänden. Rosa kannte das nur zu gut, sie wusste ganz genau, welchen Weg diese Lichter nahmen, dass sie zuerst auf der Kommode und den Bänden der illustrierten Zeitschrift entbrannten, dann auf der Wand, endlich dort in der Ecke blasser wurden und der Dämmerung Platz machten, die, wie ein feiner Aschenregen, auf die Gegenstände niederrann. Oh, sie kannte das, und es tat ihr weh, beengte sie. Dieses sachte Dunkeln erschien ihr wie der Anfang des Zurücksinkens in ihr freudloses Dasein. Es war ihr, als würde sie fest in ein farbloses Netz verstrickt, sie hätte mit Händen und Füßen stoßen, sich sträuben mögen. Das zornige, ungeduldige Verlangen nach Schönem und Freudigem ergriff sie wieder heiß. Sie erhob sich, fasste ihre Hände krampfhaft fest hinter dem Rücken zusammen, ging leise im Zimmer auf und ab und schluchzte – und wiederholte immer wieder die eintönige Klage: »Es kann – es kann nicht aus sein.« Je finsterer es ward, um so hilfloser, einsamer stand sie ihrem Jammer gegenüber. »Es kann nicht aus sein!« Sie hasste dieses finstere Wohnzimmer, sie ging zu Agnes in die Küche, vielleicht beruhigte sie das.
Auf dem Herd brannte das Feuer. Agnes saß davor und reinigte Erdäpfel. Sie wandte nur ein wenig den Kopf, als Rosa eintrat, und schabte ruhig fort. Rosa setzte sich an den Küchentisch, stützte den Kopf in die Hände und schaute ins Feuer. Endlich versetzte Agnes: »Da ist noch ein Messer, Kind. Wenn du näherkommen willst, kannst du mir bei den Erdäpfeln helfen. Nicht?«
»Ja – Agnes.«
»Gut, so komm! Sieh, die Schale kratzt du so ab, diese schwarzen Augen müssen herausgeschnitten werden.«
»Ja, ja, ich verstehe!«
Eine angenehme, beruhigende Beschäftigung war es, so mit der Messerklinge über das harte, kühle Fleisch der Erdäpfel hinzufahren.
»Gut sind diese Erdäpfel nicht – weiß es Gott! Und teuer noch dazu«, berichtete Agnes. »Aber heute habe ich auf dem Markte schon fast Streit gehabt, weil ich noch immer herunterhandeln wollte. Gott, sie ist auch zu grob – die Frau Kaute.«
»So!« Rosa blickte auf. »Was sagte sie denn?«
»Die! Was kann die anderes als Grobheiten sagen!« Agnes übertrieb ihren Zorn gegen die Kaute, um Rosa Vergnügen zu machen. »Sie sagt: ›So billig können Sie nur Erdäpfel haben, die so vertrocknet sind wie Sie.‹ So was!«
Rosa lachte. »Was sagtest du darauf?«
»Ich sagte nichts, ich ging fort.«
»Wo kommt denn die Kaute her?«
»Sie wohnt dort – jenseits des Flusses – auf dem Lande. Dort haben sie ja nichts anderes als Erdäpfel.«
»Und jeden Morgen kommt sie in die Stadt?«
»Freilich! Mit ihrem Wagen, ihrem Pferde, ihren Erdäpfeln und ihrem Jungen kommt sie jeden Morgen um vier Uhr in die Stadt und setzt sich auf den Marktplatz.«
»Um vier Uhr?«
»Gewiss! Was glaubst denn du? Ich bin auch so gefahren, als ich jung war – zu Hause, nicht weit von Tiglau. Jeden Morgen, wenn es draußen noch ganz schwarz war, habe ich hinaus müssen in den Ort, ich und der Bruder. Wir hatten einen Wagen, ein altes Pferd und eine Laterne.«
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