Auf die Heil- und Sonderpädagogik bzw. die Behindertenhilfe übertragen macht die Verbindung von Teilhabe und Teilgabe deutlich, dass Menschen mit Behinderung aktiv an der Inklusion beteiligt sein müssen und selbst etwas geben wollen. In ersten Studien zur Teilhabeforschung bei Menschen mit Behinderung (Krope et al. 2009) zeigt sich überdies, dass bei den Bemühungen, die Teilhaberechte von Menschen mit Behinderung zu erfüllen, häufig ihre Teilgabebedürfnisse gar nicht wahrgenommen werden.
Inklusion bedeutet demnach, eine neue Form des Miteinanders zu kreieren, in der Prozesse des Voneinander-Lernens – und zwar aller Beteiligten – möglich werden. Zugleich macht der Durchgang durch neuere Ansätze einer inklusiven Bildung deutlich, dass wir hier zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch von einer konzeptionellen Suchbewegung ausgehen müssen. Zielsetzung wäre ein Konzept humaner Bildung, wie es Julian Nida-Rümelin auf der Grundlage einer praktischen Philosophie entwirft:
»Bildung leistet nur dann einen Beitrag zur Humanisierung der Gesellschaft, wenn sie von Respekt gegenüber unterschiedlichen Lebensformen, Kulturen, sozialen und geographischen Herkünften geprägt ist« (Nida-Rümelin 2013, S. 194).
Nach einleitenden Überlegungen der Herausgeber des Bandes soll ein Gespräch zwischen Vertretern der Allgemeinen Pädagogik, der Schulpädagogik und der Sonderpädagogik die Frage nach einer inklusiven Bildung bewusstmachen (Ulrich Heimlich, Ewald Kiel & Rudolf Tippelt). Zur Beantwortung dieser Ausgangsfrage ist zunächst eine bildungsphilosophische Grundlegung erforderlich, die besonders den Zusammenhang von Gerechtigkeit und Bildung thematisiert. Bildung schafft allerdings in jedem Fall gute Voraussetzungen für gesellschaftliche Teilhabe (Beitrag von Wolf-Thorsten Saalfrank, Winfried Trieb & Klaus Zierer,
Kap. 1
). Letztlich gilt es, das Menschenrecht auf Bildung auch für Menschen mit Behinderung zu sichern (Beitrag von Agnes Leu & Christina Mittmasser,
Kap. 2
). Inklusion gehört mitten in die Gesellschaft und steht stets im Spannungsfeld zur Exklusion (Beitrag von Elisabeth Wacker,
Kap. 3
). Die moderne Hirnforschung bestimmt zunehmend Bildungsdiskurse und fokussiert insbesondere die Persönlichkeit (Beitrag von Gerd Schulte-Körne,
Kap. 4
). Bildung trägt allerdings auch zum Abbau von Vorurteilen gegenüber Menschen mit Behinderung bei (Beitrag von Nadja Bürgle & Dieter Frey,
Kap. 5
). Inklusive Bildung erfordert zudem die konsequente Orientierung an der individuellen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen (Beitrag von Fabienne Becker-Stoll & Monika Wertfein,
Kap. 6
). Erst vor diesem Hintergrund kann die Inkorporation des Themas »inklusive Bildung« in die Erziehungs- und Bildungswissenschaften gelingen, ohne dass elementare Verkürzungen im Bildungskonzept unterlaufen (Beitrag von Bernd Ahrbeck,
Kap. 7
und Beitrag von Rudolf Tippelt,
Kap. 8
). Schließlich erfordert die Konzipierung von Bildungsangeboten in zunehmend heterogener werdenden Gesellschaften eine interdisziplinäre Perspektive (Beitrag von Annedore Prengel,
Kap. 9
). In einem Ausblick versuchen die Herausgeber die unterschiedlichen Zugänge zur inklusiven Bildung im Konzept der inklusiven Momente zusammenzuführen. Der verbindende Begriff des »Zugangs« zum gemeinsamen Thema »Inklusive Bildung« aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven ist bewusst gewählt, da mit dem Leitbild »Inklusion« auch der Anspruch »universal access« im Sinne eines Zugangs für alle zum Bildungssystem gilt.
Ein Teil der Beiträge dieses Bandes ist aus Vorträgen im Rahmen der zentralen fakultätsübergreifenden Ringvorlesung an der Ludwig-Maximilians-Universität München im Wintersemester 2016/2017 unter dem Titel »Inklusion und Diversität – Was hält die Gesellschaft zusammen?« hervorgegangen. Den Vortragenden sei an dieser Stelle ausdrücklich für ihre Bereitschaft gedankt, ihre Überlegungen schriftlich zu fixieren und für die Publikation zur Verfügung zu stellen.
Der Band richtet sich an alle Studierenden erziehungs- und bildungswissenschaftlicher Studiengänge sowie angrenzender Fachgebiete. Inklusion ist letztlich eine gesellschaftliche Aufgabe. Insofern wird es zukünftig kaum einen gesellschaftlichen Bereich geben, der nicht vor der Herausforderung steht, die Teilhabe, Teilgabe und das Teilsein weiter zu entwickeln.
Wir danken allen Ko-Autorinnen und Ko-Autoren für ihre Geduld, die bei der Entstehung dieser Publikation erforderlich war. Wir danken Julia Roth ganz besonders für ihre unschätzbaren Dienste beim Korrekturlesen des Manuskriptes.
München, im Juli 2020
Rudolf Tippelt und Ulrich Heimlich
Adorno, Theodor W. (1951/2001): Minima Moralia. Reflexionen aus einem beschädigten Leben. Berlin/Frankfurt am Main: Suhrkamp
Dewey, John (1988): Creative Democracy – The Task before us. In: Dewey, John: The Later Works, 1925–1953. Vol 14: 1939–1941. Hrsg. von Boydston, J.A. Carbondale u. Edwardsville: Southern Illinois University Press, S. 225–230
Dewey, John (1916/1993): Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik. Weinheim/Basel: Beltz
Genishi, Cecilia & Goodwin, Lin A. (2008): Diversities in early childhood education. Rethinking and doing. London u. a.: Routledge
Gronemeyer, Marianne (2009): Die Macht der Bedürfnisse. Überfluss und Knappheit. 2. Auflage. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Heimlich, Ulrich (2014): Teihabe, Teilgabe oder Teilsein? Auf der Suche nach den Grundlagen inklusiver Bildung. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 83 (1), S. 1–5
Kittay, Eva Feder (2006): Die Suche nach einer bescheideneren Philosophie: Mentalen Beeinträchtigungen begegnen – herausfinden, was wichtig ist. Dankesrede anlässlich der Verleihung des ersten IMEW-Preises am 23. Oktober 2006 in der Urania in Berlin. Im Internet unter www.imew.de/index.php?id=269[19.05.2020]
Krope, Peter, Latus, Knut & Wolze, Wilhelm T. (2009): Teilhabe im Dialog. Eine methodisch-konstruktive Studie zu Lebenslagen von Menschen mit Behinderung. Münster/New York: Waxmann
Nieda-Rümelin, Julian (2013): Philosophie der humanen Bildung. Hamburg: edition körber Stiftung
Prengel, Annedore (1995): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit, Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. 2. Auflage. Opladen: Leske + Budrich
Prengel, Annedore (2011): Inklusion in der Frühpädagogik. Der Übergang vom Kindergarten in die Schule. In: Frühe Kindheit, 14. Jg., H. 6, S. 34–39
Wacker, Elisabeth (2011): Inklusion – kein Kinderspiel! Stationen auf dem Weg zu gleichen Chancen beim Heranwachsen für alle. In: Frühe Kindheit, 14. Jg., H. 6, S. 6–15
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