Drake und Kennedy machten sofort ein paar Anrufe. Seit der Odin-Sache hatten sie beide Zugang zu ein paar Leuten auf höchster Ebene.
Während sie Nachforschungen anstellten, sah Drake über den Schreibtisch hinweg zu Kennedy. Er fand sie immer dann am schönsten, wenn sie beschäftigt war. Sie wohnten jetzt seit sechs Wochen zusammen. Sie hatte einen ausgedehnten Urlaub vom NYPD genommen mit der Aussicht, vielleicht nie wieder zurückzukehren. Aber während sie ihre gemeinsame Zeit genossen, waren sie sich auch der Vergangenheit des jeweils anderen bewusst und hatten sich deshalb alle Mühe gegeben, nichts Falsches zu sagen oder aus Versehen irgendwelche alten Wunden aufzureißen.
Im Moment brauchte keiner von ihnen Geld. Sie waren großzügig belohnt worden, nachdem sie geholfen hatten, die Welt zu retten. Ben überlegte sogar, auszuziehen und sich etwas Eigenes zu mieten.
Drake erwischte Wells jetzt am Telefon. »Hey. Wie geht’s meinem alten Boss?«
»Nicht du schon wieder.«
»Hast du mich vermisst?«
»Nur im Einsatz.«
Drake zögerte. »Ich glaube, ich habe dir noch gar nicht die tollen Geschichten von Mai erzählt, wie ich es dir während der Odin-Sache versprochen hatte, oder Kumpel?«
»Ich bin daran gewöhnt, enttäuscht zu werden, Drake … gerade von dir.«
»Verdammt! Sei mal nicht so ein Weichei, Wells. Es ist etwas passiert, und zwar keine Kleinigkeit.«
»Okay, du darfst es mir erzählen, wenn ich dafür ein paar Mai-Geschichten zu hören kriege.«
»Es sieht ganz so aus, als wäre heute in Miami ein Elite-Team der CIA …« Drake zögerte, eine definitive Aussage zu machen, »… angegriffen worden. Es ist erst vor ein paar Minuten passiert und ich brauche dringend Details, Wells. So schnell wie möglich.«
Die Neugier seines alten SAS-Commanders schien geweckt zu sein. »Wirklich? Okay, Kumpel, ich mach mal kurz einen Anruf.«
Drake war kurz davor, eine andere Nummer anzurufen, als Ben ihn wieder rief. Er rannte zurück in das Zimmer seines Mitbewohners, Kennedy war nur einen Schritt hinter ihm.
»Da ist gerade jemand in den Raum geplatzt.« Der junge Mann zeigte auf den schwarzen Bildschirm. »Ich habe zuerst Stimmen gehört, und dann geschockte Schreie, als hätte gerade jemand den Schreck seines Lebens gekriegt. Dann hat irgendjemand geflucht und kurz danach wurde der Laptop zugeknallt.«
»Kannst du dich per Skype bemerkbar machen?«, fragte Kennedy. »Du weißt schon, dich melden, damit der Laptop piepst.«
Ben klickte ein paar Buttons an, doch nichts passierte. »Die Verbindung wurde getrennt.«
Kennedy schüttelte den Kopf. »Das hat uns gerade noch gefehlt. Warte mal kurz … Hi, ist da Justin?« Sie schüttelte frustriert das Handy, weil der Empfang mal besser und mal schlechter wurde. Justin Harrison war der Sekretär des Verteidigungsministers. Ein schmächtiger, unbeholfener Mann, der immer mit einem Aktenkoffer herumlief, der viel zu groß wirkte bei seiner Figur.
Drake verschwand jetzt lautlos aus dem Zimmer und versuchte eine letzte Nummer zu wählen. Das Telefon wurde schon beim ersten Klingeln abgehoben. »Lange her, mein Freund. Sehr lange her.« Die weibliche Stimme, die in sein Ohr drang, weckte sofort die Erinnerung an frühere, köstliche Tage, die er vermisste und an die er gern zurückdachte.
»Es wird niemals aufhören, Matt Drake. Das solltest du wissen. Für Menschen wie dich und mich gibt es kein einfaches Ende.«
»Ich weiß, dass du gerade in Florida bist, Mai.«
»Hmm. Woher weißt du das denn?«
»Ich habe schließlich immer noch Freunde in dem Laden.« Er versuchte nicht zu defensiv zu klingen. »Und die wissen gern, wo die berüchtigte Mai Kitano steckt.«
»Das kann ich mir denken. Dann ist Mr. Wells jetzt also auch noch ein Stalker und nicht nur ein Perversling?«
Drake verzog das Gesicht. »Um ehrlich zu sein, ist er ein bisschen von beidem.«
»Das glaube ich auch. Okay, was brauchst du?«
»Es hört sich vielleicht etwas komisch an, aber hast du«, er schüttelte peinlich berührt den Kopf, »mal etwas über das Bermudadreieck gehört?«
Ihr Lachen ließ auch ihn lächeln. Gott, er vermisste diesen Klang so sehr. »Ich weiß von der diesbezüglichen CIA-Operation. Ich habe auch ein paar Informationen, aber leider nicht genug. Lass mich ein paar Nachforschungen anstellen und ich rufe dich später zurück.«
»Danke.« Er lauschte ihrem Atem, bevor sie die Verbindung beendete. Er schloss die Augen und erinnerte sich an die guten alten Zeiten mit Mai zurück, die er das erste Mal in Tschetschenien getroffen hatte. Nach ein paar Sekunden hörte er ein Geräusch hinter sich und drehte sich um.
Kennedy stand in der Tür und sah ihn forschend an. »Wer war das?«
»Ein alter Kontakt.« Drake versuchte sich zusammenzureißen, schüttelte die Wolke der Schuld ab und ging an ihr vorbei zu Bens Zimmer. »Was haben wir bis jetzt?«
Bens Augen waren feucht. Er zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht. Nichts, nehme ich an.«
Kennedys Handy klingelte jetzt, ein Song von The Pretty Reckless , durchbrach die unangenehme Stille. Sie ging ran und drückte den Lautsprecher-Button.
»Hier ist Justin Harrison.«
»Ich weiß«, sagte Kennedy gedehnt, immer noch kurz angebunden, wie ein Cop. »Was haben Sie für mich?«
»Leider schlechte Neuigkeiten, fürchte ich, Miss Moore. Die CIA trägt noch immer Informationen zusammen, aber es scheint so, als ob ein Hochsicherheits-Safehouse in Miami buchstäblich ausgelöscht worden ist. Eine ziemliche Schweinerei da unten. Berichte besagen, dass es dort ein paar richtig üble Morde gab. Eine furchtbare Sache, Miss Moore.«
Kennedys Augen füllten sich unweigerlich mit Tränen. Drake schnürte es den Hals zusammen. »Hayden? Hayden Jaye? Ist sie …?«
»Wie ich schon sagte, sie untersuchen das Ganze noch, aber es scheint so, dass drei Agenten vermisst werden. Möglicherweise sind sie als Geiseln genommen worden oder … nun ja, wer weiß? Die Namen sind Jaye, Kinimaka und Godwin.«
Drake merkte, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten, angesichts Harrisons eiskalter Ausdrucksweise. Die Namen sind …
»Sie wird vermisst? Hayden wird vermisst?«
Ben war sofort auf den Beinen, versuchte seine Emotionen unter Kontrolle zu halten, scheiterte aber.
Drake sah Kennedy an, als diese die Verbindung trennte. »Lust auf eine kleine Reise in die Heimat, Liebling?«
Tief in den Everglades in Florida wand sich Hayden Jaye auf dem Betonboden. Ihre Hände waren zwar gefesselt, aber sie nutzte Mano Kinimaka als Angelpunkt und drückte sich mit seiner Hilfe hoch auf die Beine.
Dann sah sie sich um.
Sie waren in eine improvisierte Zelle in einem Komplex geworfen worden, der wenig mehr als ein baufälliges Chaos war; nur ein paar alte zusammengewürfelte Gebäude. Anscheinend war es nur eine temporäre Basis, aber für wie lange? Ihre Zelle war voller leerer, zerrissener Kartons. Godwin, das einzige andere überlebende Mitglied ihres Teams, saß in einer Ecke und lächelte sie müde an.
Hinter einer Reihe schwerer Gitterstäbe war ein großer, unordentlicher Raum, voll technologischem Krimskrams und Waffen zu sehen, die man offenbar erst vor Kurzem zusammengetragen hatte. Hayden zählte Dutzende Männer, die zwischen den kleinen chaotischen Inseln hin- und herliefen. Keiner von ihnen trug eine Maske.
Sie wandte sich an Kinimaka. »Irgendeine Idee?«
Der Gigant zuckte mit den Achseln und schüttelte eine Wolke Staub von den Schultern. »Die Everglades, Bäume, Wasser, Alligatoren.«
Sie waren auf vier Propellerbooten hergebracht worden. Als sie bei ihrem Ziel ankamen, hatte Hayden nichts gesehen, außer verfallene Wände und überwucherte Türen, doch im Inneren war der Ort ein richtiger, wenn auch unordentlicher Ausstellungsraum für die neueste Technik.
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