"Snodgraß", fragte Mr. Pickwick ernst, "was macht unser Freund? Er ist doch nicht krank?"
"Nein", versetzte Mr. Snodgraß, und eine Träne zitterte an seinem gefühlvollen Auge, wie ein Regentropfen an einem Fensterrahmen. "Nein. Er ist nicht krank."
Mr. Pickwick blieb stehen und sah abwechselnd bald den einen, bald den andern seiner Freunde an.
"Winkle, Snodgraß", rief er. "Was soll das heißen? Wo ist unser Freund? Was ist vorgefallen? Sprecht, ich bitte, ich beschwöre, nein, ich befehle es euch, sprecht!"
Es lag eine Feierlichkeit, eine Würde in Mr. Pickwicks Benehmen, denen sich nicht widerstehen ließ. "Er ist fort", sagte Mr. Snodgraß.
"Fort?" rief Mr. Pickwick. "Fort?"
"Fort", wiederholte Mr. Snodgraß.
"Wohin?" rief Mr. Pickwick.
"Wir wissen es selbst nicht", entgegnete Mr. Snodgraß, indem er ein Schreiben aus seiner Tasche zog und es seinem Freunde überreichte. "Gestern morgen, als ein Brief von Mr. Wardle mit der Meldung einlief, daß er am Abend seine Schwester zurückbringen würde, bemerkten wir, daß die Schwermut, der sich unser Freund tags zuvor schon hingegeben hatte, zunahm. Bald nachher war er verschwunden. Wir vermißten ihn den ganzen Tag über, und am Abend Brachte uns der Stallknecht aus der ,Krone' in Muggleton diesen Brief. Tupman hatte ihn am Morgen dort gelassen, mit dem ausdrücklichen Befehl, ihn vor Abend nicht abzugeben."
Mr. Pickwick öffnete den Brief. Er trug die Handschrift seines Freundes und enthielt folgende Zeilen:
"Mein lieber Pickwick!
Sie, mein teurer Freund, stehen hoch über den Gebrechlichkeiten und Schwächen, denen der gewöhnliche Mensch nur zu leicht anheimfällt. Sie wissen nicht, was es heißt, plötzlich von einem lieblichen, bezaubernden Wesen verlassen zu sein und das Opfer eines Elenden zu werden, der unter der Maske der Freundschaft die grinsende Fratze der Arglist verbarg. Ich hoffe auch, daß Sie es nie an sich erfahren mögen. Ein Brief unter der Adresse: ,Lederne Flasche', Cobham in Kent, wird an mich gelangen, wenn ich noch am Leben bin. Ich fliehe den Anblick einer Welt, die mir verhaßt geworden. Sollte ich sie ganz und gar verlassen, so weinen Sie mir eine Träne nach und vergeben Sie mir. Das Leben, mein lieber Pickwick, ist mir unerträglich geworden. Der Mut, der in der Seele glimmt, ist des Lastträgers Tragriemen, auf dem die schwere Bürde der Erdenmühen und Erdensorgen ruht; nehmen Sie ihn weg, so erdrückt uns das Gewicht. Teilen Sie dies Rachel mit! Ach, dieser Name!
Tracy Tupman."
"Wir müssen auf der Stelle von Dingley Dell aufbrechen", sagte Mr. Pickwick, als er das Schreiben wieder zusammenfaltete. "Es wäre nach dem, was vorgefallen, unter keinen Umständen für uns schicklich, länger hierzubleiben. Wir haben die Verpflichtung, unserm Freunde zu folgen und ihn aufzusuchen." Mit diesen Worten führte er sie zu dem Hause.
Daselbst tat er unverzüglich sein Vorhaben kund und blieb, trotz der dringlichsten Bitten, unerschütterlich. Geschäfte, sagte er, forderten seine unverzügliche Abreise.
Der alte Geistliche war zufällig zugegen.
"Wie, ist's Ihnen wirklich Ernst, abzureisen?" fragte er und nahm Mr. Pickwick beiseite.
Mr. Pickwick wiederholte seine frühere Versicherung.
"Dann nehmen Sie hier dies kleine Manuskript", fuhr der alte Herr fort, "das ich Ihnen selbst vorzulesen gedachte. Ich fand es unter den hinterlassenen Papieren eines Freundes von mir, eines Arztes an dem Irrenhaus unsrer Grafschaft, die mir zum Verbrennen oder Aufbewahren, je nachdem ich es für gut fände, übergeben wurden. Ich kann kaum glauben, daß das Manuskript wirklich von einem Irrsinnigen herrührt, obschon es keinesfalls die Handschrift meines Freundes ist. Mag es übrigens wirklich das Konzept eines Wahnsinnigen oder den Rasereien irgendeines Unglücklichen nachgebildet sein, was mir wahrscheinlicher dünkt, lesen Sie es und urteilen Sie dann selbst."
Mr. Pickwick nahm das Manuskript und verabschiedete sich von dem wohlwollenden alten Herrn unter vielen Achtungs- und Freundschaftsversicherungen.
Schwerer wurde der Abschied von den Bewohnern Manor Farms, bei denen sie so viele Liebe und Gastfreundschaft genossen hatten. Mr. Pickwick küßte die jungen Damen – fast, könnte man sagen, als ob sie seine eignen Töchter gewesen wären –, doch schien diesem Gruße ein bißchen zu viel Feuer beigemengt zu sein, als daß dieser Vergleich ganz passend wäre, umarmte die alte Dame mit der Zärtlichkeit eines Sohnes, tätschelte die roten Wangen der Dienstmägde in patriarchalischer Weise und ließ dabei in die Hände einer jeden einige stofflichere Beweise seines Wohlwollens gleiten. Noch herzlicher war der Abschied der Herren von ihrem wackeren alten Wirte und Mr. Trundle, und sie vermochten sich erst von den lieben Leuten loszureißen, als endlich nach vielem Rufen Mr. Snodgraß aus einem dunklen Gange auftauchte, dem bald nachher Emilie mit nicht ganz so wie sonst leuchtenden Augen folgte. Die Herren sahen sich oft nach Manor Farm um, als sie langsam weitergingen, und Mr. Snodgraß warf manches Kußhändchen zurück in die Luft, wo so etwas wie ein Damentaschentuch lange aus einem der oberen Fenster flatterte, bis sie einen Feldweg einschlugen und die Hecken das alte Haus verbargen. In Muggleton verschafften sie sich eine Mietkutsche nach Rochester. Dort angelangt, hatte sich das Obermaß ihres Schmerzes so weit gelegt, daß sie ein splendides Mittagessen zu sich nehmen konnten, und sobald sie die nötigen Weisungen hinsichtlich des Weges eingeholt hatten, setzten sie sich wieder in Bewegung, um eine Nachmittagsfußpartie nach Cobham zu machen.
Es war ein herrlicher Spaziergang, denn der Juninachmittag war wunderschön, und der Weg führte sie durch einen tiefen, schattigen Wald. Leise rauschend fuhr ein kühles Lüftchen durch das dichte Laub, und die Vögel in den Zweigen belebten die Landschaft mit ihrem Gesang. Moos und Efeu bedeckten dicht die Rinde der alten Bäume, und das sanfte Grün des Rasens bekleidete den Grund wie ein seidner Teppich. Schließlich gelangten sie in einen offnen Park mit einer alten Halle in der wunderlichen und pittoresken Bauart aus Königin Elisabeths Zeiten. Auf beiden Seiten zogen sich lange Alleen aus stattlichen Eichen und Ulmen hin; große Rudel von Hochwild labten sich an dem frischen Grase, und hin und wieder lief ein aufgeschreckter Hase über den Weg.
"Oh, wenn doch", rief Mr. Pickwick und sah sich in der Landschaft um, "wenn doch alle, die das gleiche Leiden bedrückt wie unsern Freund, hierherkämen! Gewiß müßte die frühere Liebe zum Leben bald wieder zurückkehren." "Mir aus der Seele gesprochen", meinte Mr. Winkle.
"Und in der Tat", fügte Mr. Pickwick nach einer halben Stunde, während der sie bei einem Dorfe angelangt waren, hinzu, "selbst für einen Welthasser muß dieser Park der schönste und lieblichste Aufenthalt sein, den man sich nur denken kann." Auch hiermit waren sowohl Mr. Winkle als Mr. Snodgraß einverstanden. Sie fragten nun nach der "Ledernen Flasche" und wurden an ein reinliches und bequemes Dorfwirtshaus gewiesen, in das sie sogleich traten, um sich nach einem Gentleman namens Tupman zu erkundigen. "Führe die Herren ins Gastzimmer, Tom", sagte die Wirtin.
Ein stämmiger Bauernbursche öffnete am Ende des Hausflures eine Tür, und die drei Freunde traten in ein langes, niedriges Zimmer, in dem eine große Anzahl von gepolsterten Sesseln mit hohen, wunderlich geschnitzten Lehnen stand und eine Reihe alter Porträts und rohkolorierter Drucke die Wände zierte. Am oberen Ende befand sich eine gedeckte Tafel mit gebratenem Geflügel, Schinken, Bier und dergleichen, hinter dem Mr. Tupman in einer Weise beschäftigt war, die auf nichts weniger als auf einen lebensüberdrüssigen Menschen schließen ließ.
Bei dem Eintritt seiner Freunde legte Mr. Tupman Messer und Gabel nieder und trat ihnen mit einer Miene voll Trauer entgegen. "Ich erwartete nicht, Sie hier zu sehen", sagte er, Mr. Pickwicks Hand ergreifend. "Wie gütig von Ihnen."
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