Haley ließ sich nicht beirren. »Nein, bitte lass mich dich bedienen.« Sie hinderte ihn daran, sich umzudrehen.
»Heißes Wasser auszugießen kriege ich noch hin«, entgegnete Gordon gereizt. Er hob den Behälter von der Herdplatte und wartete darauf, dass seine Tochter Platz nahm.
Schließlich trat sie mit verdrossenem Blick zur Seite.
Er gab das dampfende Wasser in die Kanne und ließ es durch das Pulver sickern.
Haley beobachtete ihn beim Zubereiten des Kaffees.
Als er dies bemerkte, fügte er hinzu: »Ich bin alt, darum zittere ich. Alte Leute tun das eben.«
»Komm, ich helfe dir.«
Da hob er eine Hand und stellte klar: »Ich bin bloß alt und kein Dahinsiechender. Außerdem tue ich das schon ziemlich lange allein. Ich weiß, deine Mutter hat mich in der Küche für unfähig gehalten, aber ihre Ansprüche waren auch hoch.«
»Ich vermisse Mom«, seufzte Haley.
Gordon hielt inne. »Ich auch, Schatz. Ich auch.« Er drückte den Stempel hinunter und füllte zwei Tassen. »Milch oder Zucker?«
»Gerne beides.«
Nachdem er ein Kännchen und eine Schale Zucker mit Löffel auf die Küchentheke gestellt hatte, ging er außen herum und setzte sich auf einen Hocker.
Haley nahm neben ihm Platz. Sie trank einen Schluck. »Unheimlich gut«, meinte sie genüsslich.
»Finde ich auch. Während des Krieges hätte ich für eine anständige Tasse Kaffee töten können«, sinnierte er beim Trinken.
»Ich dachte, das hättest du sowieso getan.« Mit dieser Anspielung bezog sich Haley auf die vielen Lügen über seine Vergangenheit, welche die Medien seit einiger Zeit verbreiteten.
»Ha, ich bin mir sicher, die revisionistischen Arschlöcher in Olympia haben sich diese Horrorgeschichten ausgedacht. Sie lassen nichts unversucht, um mich als Monster darzustellen.«
»Niemand beschuldigt dich, für Kaffee getötet zu haben, aber dein Ruf und dein Vermächtnis stehen definitiv im Kreuzfeuer.«
Gordon murmelte kopfschüttelnd: »Faule, verwöhnte Bengel, die nie einen Finger krumm gemacht haben, wollen jetzt alles schlechtreden, was wir im Krieg getan haben. Hätten wir keine Verbündeten in Olympia, würden sie alle Denkmäler niederreißen und uns in den Geschichtsbüchern totschweigen.«
»Das lässt sich die Bevölkerung nicht bieten. Viele Menschen erinnern sich noch an die finsteren Tage nach dem Zusammenbruch. Zudem haben sie nicht vergessen, was ihr alle geleistet habt, um dafür zu sorgen, dass wir frei leben können«, betonte Haley, um ihn daran zu erinnern, dass nach wie vor ein Großteil der Bürger von Kaskadien wertschätzte, was er vollbracht und geopfert hatte.
»Es ist nur eine Frage der Zeit. Schließlich fällt stets der nachkommenden Generation die Verantwortung zu, unsere Freiheit zu wahren, und wenn ich an den sozialistischen Unfug denke, der sich im Westen abspielt, befürchte ich, dass wir eine weitere Rebellion werden niederschlagen müssen.«
Die politischen Spannungen aus der Frühzeit der Republik waren weiterhin präsent. Wer in der östlichen Region von Kaskadien lebte, vertrat eher konservative, liberale Werte, wohingegen diejenigen im Westen und vor allem entlang der Küste Mitte links standen, nicht wenige mit einer starken Neigung zu sozialistischem Gedankengut. Die ideologischen Gräben waren nach wie vor die gleichen, bloß hatten sich die Fronten weiter verhärtet.
Die Sozialisten gingen aus Charles' Westkaskadischer Freiheitsbewegung hervor. Bei der heutigen Jugend erfreute er sich sogar neuer Beliebtheit, und dass Gordon ihn getötet hatte, hatte ihn zum Märtyrer gemacht. Auf so manchem College-Campus und in vielen Coffee-Shops oder Cafés in Olympia tauchten nun T-Shirts, Poster und Aufkleber mit seinem Konterfei auf.
Gordon war frustriert von der Politik. Er verachtete sie, musste aber gute Miene zum bösen Spiel machen. Statt sich selbst für einen Politiker zu halten, sah er sich als Rädelsführer und Krieger.
Jetzt schüttelte auch Haley den Kopf. »Ich hätte nie geahnt, dass es möglich wäre … also dass die Leute vergessen, aber mittlerweile sieht man es.«
»Aus dem Grund bin ich froh, dich hier zu haben – und die Jungs auch«, erwiderte Gordon. »Es wird Zeit, etwas zu unternehmen, sonst müssen wir wieder in die Schlacht ziehen.«
»Oh, Dad, so schlimm ist es nicht«, behauptete Haley, ein schwacher Versuch, die Situation herunterzuspielen. Insgeheim beschlich sie das Gefühl, ihr Vater könne recht haben.
»Kaskadien geht vor die Hunde; im Ernst, über kurz oder lang sind diese Bastarde an der Macht und machen alles kaputt, wofür wir gekämpft haben. Es sei denn, wir halten sie auf.«
»Was soll das heißen?«, fragte Haley.
»Genau, was soll das heißen?« Hunter war im Obergeschoss an den Treppenabsatz getreten.
Verdutzt schauten Gordon und Haley zu ihm hoch.
Hunter kam schnell die Stufen herunter und in die Küche. »Wen sollen wir aufhalten?«
Gordon grinste und nippte noch einmal an seiner Tasse.
»Wir haben uns bloß unterhalten«, meinte Haley.
»Nein, sagt's mir.«
Gordon schaute seine Tochter an, grinste erneut und nickte. Sein Blick wanderte zu Hunter hinüber, bevor er anhob: »Im Westen gibt es eine politische Bewegung, die die Regierung stürzen wird, falls man sie gewähren lässt. Wir müssen sie umgehend in ihre Schranken verweisen oder mit ansehen, wie uns das Land genommen wird, für dessen Gründung wir uns so erbittert eingesetzt haben.«
Hunter zog einen Hocker heran und ließ sich darauf nieder. Er war gespannt, was sein Großvater noch zu erzählen hatte.
»Ich schenk dir auch einen Kaffee ein«, bot Haley an.
»Ich brauche dir nicht zu sagen, dass es Stimmen im Osten gibt, die sich vom Westen abspalten wollen«, so Gordon weiter, »aber du weißt vermutlich nicht, wie weit sich diese Meinung in manchen Kreisen ausgebreitet hat.«
»Diese Separatisten halten sich schon seit der Gründung der Republik«, entgegnete Hunter und meinte damit eine kleine Gruppe, die sich für eine Trennung starkgemacht hatte – kurz nach der Einigung, in deren Zuge Gordon zum Präsidenten ernannt worden und in der Lage gewesen war, weitere revolutionäre Bestrebungen zu vereiteln.
»Aber es wird schlimmer«, gab Gordon zu bedenken. »Heute herrschen andere politische Umstände. Die Menschen sind bereit, aufzustehen und zu den Waffen zu greifen; wir haben es bereits getan und werden es wieder tun.«
»Wir?«, hakte Hunter nach.
»Kennst du das Zitat? Ich glaube, es stammt von Thomas Jefferson: Der Baum der Freiheit muss von Zeit zu Zeit mit dem Blut der Patrioten und der Tyrannen begossen werden. Dies ist der Freiheit natürlicher Dünger.«
»So schlimm ist es nicht«, wiederholte Haley.
»Also, was schlägst du vor?«, wollte Hunter wissen.
»Im Augenblick sind unsere Verbündeten in Olympia an der Macht«, so Gordon, »aber früher oder später werden der demografische Wandel und die Unfähigkeit unserer eigenen Regierung dazu führen, dass alles, wofür wir sehr hart gearbeitet haben, hinfällig ist.«
Hunter beugte sich ein wenig nach vorn und fragte wieder: »Was schlägst du vor?«
»Eine Revolution«, antwortete Gordon.
»Ach, Dad, jetzt tust du aber arg dramatisch«, warf Haley ein.
Hunter beachtete sie nicht. »Eine Revolution?«
Gordon stand auf und ging zu der Schiebetür, die auf die Terrasse führte. Er hielt sich die Tasse wieder an den Mund und trank einen kräftigen Schluck.
»Mom, was meint er damit?«, insistierte Hunter.
Haley neigte sich ihm zu und flüsterte: »Ich glaube, dein Großvater wird senil.«
Daraufhin lachte Gordon herzhaft auf. »Ich werde nicht senil, ganz im Gegenteil.« Er drehte sich um und fuhr fort: »Als deine Mutter starb, habe ich versprochen, auf dich und die Jungs aufzupassen. Das hat mich vor ein Problem gestellt, weil man mich für tot hielt, aber ich hatte noch meine engen Freunde, die das ganz wunderbar geregelt haben. Jetzt hebt die Tyrannei ihr Haupt aufs Neue, bloß dass sie sich hinter Begriffen wie ›Toleranz‹, ›politische Korrektheit‹ oder ›Einkommensgleichheit‹ versteckt, wofür sich eine große Zentralregierung einsetzen soll. Ich nenne das eine sanfte Gewaltherrschaft, doch einige ihrer Befürworter zeigen sich schon willens, gewaltsam gegen jeden vorzugehen, der nicht ihre Meinung teilt. Erinnert euch nur daran, wie es jenen Bauern mitten im Staat Washington ging: Ihre Ernte wurde zerstört, womit sie auch ihren Lebensunterhalt verloren, weil sie im vergangenen Jahr gegen das Gesetz zur Gleichaufteilung von Ländereien protestiert haben.«
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