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VIZeit zählt: Abbott in der Soziologie
Mit seiner programmatischen Ansage »time matters« für die soziologische Theorie – »Zeit(lichkeit) zählt« – bietet Abbott eine Fülle an Anknüpfungspunkten, um die bestehenden und derzeit auflebenden Debatten um die Zeitlichkeit des Sozialen voranzubringen. Mit seinen Bemühungen, besser zu verstehen, was es bedeutet, von einer Aufeinanderfolge von Sequenzen zu sprechen, und Antworten auf die Frage zu finden, welche Relevanz diese Sequenzialität für die Sozialtheorie hat, greift Abbotts prozesssoziologischer Theorieansatz in ein zwar nicht brachliegendes, aber doch erstaunlich unterentwickeltes semantisches Feld ein. Dass wir Abbotts Programm in diesem Band als eine Kollektion vor allem prozesstheoretischer Interventionen präsentieren, ruft dabei zwei Kernfragen auf: zum einen das Problem der angemessenen Theoretisierung der Zeitlichkeit sozialer Realität, zum anderen die Frage nach der Relevanz von Zeit für ein Verständnis sozialer Wirklichkeit.
Aktuell gibt es maßgeblich zwei sozialtheoretische Strömungen, für die Zeit ebenfalls zählt: einerseits die Entwürfe einer lebensphilosophischen bzw. neovitalistischen Sozialtheorie, andererseits die Praxistheorie in der Variante, die in erster Linie von Theodore Schatzki geprägt ist. 155In beiden Strömungen findet sich die Annahme einer fundamentalen Zeitlichkeit des Sozialen. Während sich der Neovitalismus jedoch dem Abbott’schen Paradigma der Veränderung anschließt, bringt die Praxistheorie mit dem Paradigma der Wiederholung eine (vermeintlich andere) zirkuläre Vorstellung fundamentaler Zeitlichkeit ins Spiel. Zusammen bilden sie eine in sich kontroverse Ökologie sozialtheoretischen Denkens. Ein zumindest kursorischer Vergleich ermöglicht es, Abbotts gegenwärtiges Einflusspotenzial – seinen Ort in der Soziologie – wenigstens ansatzweise zu skizzieren.
Das Paradigma der Veränderung hat einen vergleichbaren Ausgangspunkt wie Abbott, der ja wie gesehen in radikaler Manier die Prozessualität aller Dinge behauptet. 156Die derzeit diskutierten neovitalistischen Ansätze kritisieren, angelehnt an Henri Bergson oder Georg Simmel, die soziologische Tradition ebenfalls für ihre »verräumlichte« Imagination sozialer Realität. 157Sie problematisieren eine Art grundlegende Strukturierung soziologischer Wahrnehmung, nach der sich Entitäten – wie oben schon ausgeführt – in festen Grenzen und wie auf einem Feld verteilt gegenüberstehen. 158
Nun geht es weder Abbott noch den Neovitalisten darum, dieser Raumontologie sozialer Realität schlicht eine zeitliche Dimension hinzuzufügen, um sich soziale Entitäten fortan als auch in der Zeit ausgedehnte Dinge vorzustellen. Ihr Anliegen ist es also nicht allein, soziale Entitäten grob zu historisieren, also schlicht anzuerkennen, dass sie nicht schon immer und genauso existiert haben, wie wir sie in der Gegenwart vorfinden. Stattdessen wollen Neovitalistinnen »all jene soziologischen Theorien […] kritisieren, die den sozialen Wandel als sekundär gegenüber einem gesellschaftlichen Sein konzipieren«. 159Dabei geht es um wesentlich mehr als die bloße Imagination einer sozialen Raum zeit . Es geht um ein neues Paradigma: Heike Delitz zufolge ist »das permanente Anders-Werden« die basale Eigenschaft sozialer Realität. Von ihr stammt der Vorschlag, in Abgrenzung zum Raumparadigma vom Paradigma »der permanenten Veränderung« zu sprechen. Dadurch wird dann folgerichtig »das soziologische Bezugsproblem neu formuliert«. Anstatt Ordnung zu erklären, geht es darum, das Anders-Werden »qualitativ« zu verfolgen. 160
Die soziologische Beobachtung beginnt in dieser Perspektive mit der ontologischen Annahme, dass soziale Phänomene aus einem ständigen Werden bestehen. 161Nach Vorstellung der Neovitalisten entwickelt sich dadurch ein anderer Blick auf das Soziale, als es innerhalb einer Raumimagination möglich wäre: »Die Zeit ist kein teilbares und homogenes Medium, vergleichbar dem Raum. Die temporale Dimension des Wirklichen ist vielmehr eine unteilbare, kontinuierliche und unvorhersehbare sowie nicht revidierbare Aufeinanderfolge.« 162Ebenso wie – und auch im (vorsichtigen) Anschluss an – Abbott arbeitet sich die Lebenssoziologie an der Kritik eines Paradigmas ab, das zu ordnungsfixiert ist und vornehmlich ergründet, » was etwas war und was es wird«. 163So bleibt das Werden jedoch im Grunde abgedunkelt, da es hier von Anfangs- und Endzuständen her gedacht wird, nicht als Verlauf.
Das Programm der neuen Lebenssoziologie ist ambitioniert, bescheiden sind freilich noch die theoretische Detailarbeit und empirischen Einsichten. 164Ein stärkeres Gespräch mit dem Œuvre Abbotts könnte hier der Verfeinerung und Weiterentwicklung, womöglich auch der Vermeidung von Irrwegen dienen. 165Obwohl Abbott darauf insistiert, dass alles Veränderung ist, versucht er doch immer wieder, das Werden der Dinge mit einem Blick auf Ordnungen der Veränderung und Anfangs-, End- und Wendepunkte zu versöhnen. Alles fließt, aber es bilden sich Muster (patterns) . Um diese Muster zu entschlüsseln, ohne sie dabei nur von ihrem Ausgangs- oder Endpunkt her zu denken, ruft Abbott uns zu einer sensiblen Suche nach den Varianten auf, wie sich Ereignisse und Ereignissequenzen verketten. Es geht ihm um »varieties of enchainment«, um der Vielfalt dieser Verbindungen, Verknüpfungen und Vernetzungen gerecht zu werden. 166
Ein auf der Höhe der Abbott’schen Intervention argumentierendes prozesssoziologisches Denken dürfte sich also nicht mit Hinweisen darauf begnügen, dass sich alles stets verändert. Vielmehr müsste eine so aufgestellte Soziologie über die »nature of sequence order« der Prozesssegmente informieren können. 167Welche Bedeutung hat die Reihenfolge der Ereignisse, wie ist sie sozialtheoretisch zu erfassen und wie epistemologisch und methodologisch zu ermitteln? 168Das Werden des Sozialen ernst zu nehmen und nicht mehr als Zwischenschritt zwischen zwei festen Aggregatzuständen zu theoretisieren bedeutet mit Abbott ferner auch nicht, Anfang, Ende oder Wendepunkte aus der Analyse zu verbannen – im Gegenteil! Diesem Problem nachzugehen heißt, um es nochmals mit Abbott zu sagen, über theoretisches Rüstzeug zu reflektieren, das der Erfassung prozessualer Konvergenzen und Divergenzen dient. Zu ermitteln, wie die Bedingungen eines Prozesses dessen Ende, Ausgang oder etwaigen Abbruch konditionieren, läuft dabei keineswegs auf den Vorschlag hinaus, nur solche Prozesse zu betrachten, deren Endpunkt absehbar wäre. Doch muss eine Prozesstheorie die Bedingungen und Konstellationen im Auge behalten, die im Zweifelsfall über das Altern, Verlangsamen, Beschleunigen oder Auslaufen von Prozessen mitentscheiden. Andernfalls laufen Prozesstheorien Gefahr, in einer Prozessontologie zu münden, in der die soziale Welt ganz allgemein als unendliches Werden gefasst und womöglich sogar gefeiert wird, jedoch um den Preis, diesem Werden keine spezifizierenden Konturen geben zu können.
Auf eine ganz andere, fast schon entgegengesetzte Weise greift ein anderer sozialtheoretischer »turn« derzeit das Diktum »Zeit zählt« auf, der also die soziale Realität ebenfalls fundamental temporal denkt. Das Paradigma der Wiederholung tritt in Konkurrenz zum Paradigma der Veränderung . 169Gemeint ist hier die sogenannte Praxistheorie. Bei ihr handelt es sich freilich um einen losen Verbund ganz unterschiedlicher, häufig sogar höchst widersprüchlicher Versatzstücke und Forschungsansätze in den Sozial- und Kulturwissenschaften. Da es uns an dieser Stelle nur um eine grobe Verortung von Abbott innerhalb einer Debatte um die Zeitlichkeit sozialer Realität geht, beschränken wir unsere Darstellung auf eine Linie innerhalb dieses heterogenen Feldes, die man um den Namen Theodore Schatzki ziehen kann. 170
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