Um es hier vorwegzunehmen, die verschiedenen anarchistischen Gruppen, die ich im Laufe der Jahre kennengelernt habe und mit denen ich lange Zeit im Briefwechsel gestanden bin, in den europäischen Ländern und in Amerika, singen alle an einem Choral, das Lied von der Freiheit, das wie ein Gebet gesprochen wird und nichts und alles enthält. Ich habe nur einfältige, bescheidene Leute getroffen, abgestuft im Grade ihrer Einfalt nach ihrem Beruf und den Notwendigkeiten der nackten Existenz, von ausgesprochen kleinbürgerlichem Zuschnitt mit der Sehnsucht nach einer Moral, die den Einzelnen und die Menschheit leiten wird: die imaginäre Ordnung, die von selbst einmal kommen wird. Sie glauben daran, die meisten wenigstens.
Der Choral muss früher oder später nach innen schlagen, in die Seele sozusagen, sobald einige äußere Ziele schwinden oder schärfer sich abzeichnen in dem Sinne, dass eine persönliche Entscheidung getroffen werden muss … wer sich dann umbringen will, wird ins Irrenhaus gesteckt.
Andere pflegen dann ihren Körper und nähren den Geist in übersinnlichen Gefilden, den Kühen vergleichbar auf der grünen Weide, über die der Himmel sich weitet, die Sonne scheint und der Regen herniederträufelt; Vorübergehende, die ob dieser Naturverbundenheit in Erstaunen geraten, hören dann nur das Muhmuh.
Die Mehrzahl der amerikanischen anarchistischen Gruppen sind bei den Rosenkreuzern gelandet, Jack London bei den Spiritisten.
Ich sage das alles nicht im Bösen, es sind trotzdem prächtige Menschen, und ich wünschte, ich hätte mich in eine solche Gruppe wenigstens einleben können, ob im südamerikanischen Urwald oder im Dschungel der Großstadt oder in den Niederlanden, wo die Schelde die gut meinenden Leute in den Schlaf wiegt, während draußen in der Welt so böse Unruhe herrscht. –
Von unseren Diskussionen in der Gruppe Tat gingen wir indessen auch zur Praxis über. Wir warben mit Handzetteln von Wohnung zu Wohnung für den Kirchenaustritt. Die Syndikalisten, vielleicht 200 Mitglieder stark, hatten für München den Generalstreik ausgerufen, beginnend mit dem Streik der Plattenleger, bei denen sie am stärksten vertreten waren. Es kam in einer von den sozialdemokratischen Bauarbeitern nach einem der großen Bierkeller einberufenen Massenversammlung zu einem großen Skandal. Die Handvoll Syndikalisten hatten die Versammlung reichlich in Harnisch gebracht, mit Sontheimer als dem Redner für den Generalstreik – Sontheimer ist nach dem Kriege in die Regierung der Münchner Räterepublik geraten, ich glaube als Kriegsminister. Er wurde beim Einmarsch der Reichswehr in seiner Wohnung aufgespürt und erschlagen, in der Badewanne.
Dann hatte sich Mühsam zu Wort gemeldet. Es war ihm auch gelungen, das Podium zu betreten, flankiert und abgedeckt von den Mitgliedern der Gruppe Tat, alles recht schmächtige und windige Gestalten im Vergleich zu den Urbayern im Saal, die bereits angefangen hatten, ihren Protesten und dem sonstigen wilden Geschrei mit einer Kanonade von Bierkrügen und Stuhlbeinen auf das Podium mehr Nachdruck zu verleihen. Für mich hätte das eigentlich der Vorgeschmack sein sollen, für das, was alles in den späteren Jahren noch zu erwarten sein würde.
Glücklicherweise ist niemand ernstlicher verletzt worden. Unserer Kameradin Ida, die mit ihrem Freund Morax auf den Abendveranstaltungen der Gruppe Tat französische Revolutionslieder zur Guitarre zu singen pflegte, wurden die Kleider vom Leibe gerissen.
Zu diesen Abendveranstaltungen luden wir aus der Gastwirtschaft „Zum Soller“ die Mädchen ein. Sie brachten ihre Zuhälter mit, die kleinen Taschendiebe und sonstige Elemente in der Gesetzlosigkeit von geringerem Format, die Nelke hinterm linken Ohr. Wir wollten ihnen einen freien Abend unter sich veranstalten, losgelöst von ihren sonstigen Verpflichtungen. Wir lieferten die Unterhaltung. Mühsam las einige Gedichte vor und hielt eine kurze Ansprache; dann wurde gesungen und getanzt, wir hatten Guitarre und Harmonika, und wir bezahlten das Bier, das heißt, Mühsam bezahlte das. Wenn ich das heute noch so sagen darf, es herrschte eine wundervolle Stimmung.
Später hat Gustav Landauer, der uns von Frankfurt her regelmäßig besuchte und unter Kontrolle hielt, diese Abende verboten. Aber auch sonst hätten wir das Interesse der Soller Kameraden nicht halten können. Sie sind zu sehr vom Saisongeschäft abhängig. Es gibt Wochen, in denen die Bauern schon am frühen Morgen in die Stadt hineinkommen und sehr früh in den Soller einfallen, wo man ihnen das Geld dann abnehmen kann. Es gibt aber auch Wochen, in denen nur Abendgäste zur Behandlung eintreffen.
In den Universitätsferien hatte ich mich einer Gruppe von Tat-Besuchern angeschlossen zum Hopfenzupfen in die Holletau. Ich entsinne mich an den Marktplatz in Wolnzach. Wir wurden von dem Stadtgendarmen in einer Reihe aufgestellt, alte und junge, Frauen und Kinder dazwischen. Der Bauer mit einem übermannshohen Stab, wie St. Peter an der Himmelstür, schritt die Reihe ab und stieß mit dem Stock den einen oder anderen auf die Brust – das hieß, der war angenommen. Ein Schreiber, der hinter dem Bauern herging, teilte die Nummern aus. Später wurden die Nummern aufgerufen, die Kolonnen zusammengestellt, und wir marschierten ab, der Bauer an der Spitze, in den Hopfengarten, oft ein weiter Weg von der Stadt und auch von dem Anwesen des Bauern. Wir bekamen Quartier im Stroh in der Scheune, alle miteinander und durcheinander.
Die Arbeit ist nicht sehr schwer gewesen, natürlich ungewohnt, wenn am frühen Morgen die Dolden noch von dem starken Tau bedeckt sind und an den Fingern kleben bleiben. Wir bekamen dreimal am Tage zu essen, jedes Mal ein Berg Kartoffeln für alle, zweimal eine dünne Zwiebelsuppe und drei große Scheiben Brot für den Tag. Die Gesellschaft, der ich mich angeschlossen hatte, war ebenso unerfahren wie ich. Wir waren zu Fuß von München aufgebrochen und hatten uns bei den Bauern durchgebettelt. Wir hatten natürlich nicht einen Pfennig Geld. Von diesem Essen aber kann man nicht existieren, den ganzen Tag bis spät in die Nacht hinein hopfenzupfend, Reihe für Reihe. Am dritten Tag brannten mir die Eingeweide wie Feuer, ich hatte große Mühe, Wasser zu lassen. Den anderen war auch das Singen vergangen, der Aufruf zur Revolution, die Verteilung von Flugblättern. Wir hielten schließlich die erste Woche durch, bevor wir vom Bauern einen Vorschuss erhalten konnten. Davon kauften wir uns im Dorf Wurst und Bier; die anderen vier Wochen ging es dann schon besser. Aber den Choral haben wir trotzdem nicht zelebriert.
Nach Wolnzach strömten um die Zeit der Hopfenernte damals dreißig- bis vierzigtausend Leute aus ganz Deutschland zusammen, in der Mehrzahl die Vagabunden der Landstraße, für die es eine Art Jahrestreffen gewesen sein muss. Diese Leute werden sonst von der Feldpolizei scharf angefasst und nach Laune eingesteckt, je nachdem wie viel Mangel an Arbeitskräften in einem Ort war. In diesem Monat aber drückt die Polizei ein Auge zu, und zwar sowohl für den Anmarsch wie für den Abtransport. Für revolutionäre Lieder und Aufrufe, gleichviel für was, sind diese Tippelbrüder nicht zu gewinnen – ich würde sagen, sie werden auf uns mit ironischer Verachtung herabgesehen haben.
Nach dieser ersten schweren Enttäuschung ging die Begeisterung mit gedämpftem Trommelschlag. Das Studium störte mich wenig. Ich hatte auf den Prüfungstermin zu warten und die Bekanntgabe der mündlichen Prüfungsfächer. Da Sinzheimer auf ein Jahr nach Amerika gegangen war als Austauschprofessor, würde sich die Sache hinziehen.
Der Rest meines Aufenthaltes in München, während dem ich angefangen hatte, ein zweites Buch zu schreiben, verbrachte ich mit einem Tippelbruder namens Kindler, den ich bei Mühsam kennengelernt hatte. Kindler kannte Dutzende von Arbeitshäusern und fast alle Polizeigewahrsame in Bayern. Seine Gesellschaft war mir lieber als diejenige der prominenten Schriftsteller und Philosophen, bei denen Grabisch mich gern eingeführt hätte.
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