Ich habe später vielen Leuten von meinen schrecklichen Erlebnissen mit der Richterin Jean Hortense Norris erzählt, aber keiner wollte es mir so recht glauben. Ich glaube, man muss das alles selbst erlebt haben, bevor man es glauben kann.
Monate später sprach jeder über diese Richterin. Es war im Jahr 1930/31, als die Seabury-Untersuchung Schlagzeilen machte. Richter Seabury selbst brachte sie vor das Berufungsgericht, wo sie mit einstimmiger Mehrheit ihres Amtes enthoben und für »unfähig« erklärt wurde, den Richterberuf auszuüben.
Das war die alte Dame, die mich als »gefallenes Mädchen« ins Gefängnis gebracht hatte. Das war dieser feine Mensch, der mich als »verdorben« bezeichnet hatte. Man hätte sie ins Gefängnis stecken sollen, aber das ist nie geschehen. In den Gefängnissen waren Hunderte von Mädchen, die sie verurteilt hatte, und viele von ihnen warteten auf sie. Wäre sie ins Gefängnis gekommen, hätte selbst ich wieder gern eine kurze Zeit dort abgerissen, nur um sie einmal in die Finger zu bekommen.
Als meine Mutter und ich wieder zusammengekommen waren und wir in Harlem eine Wohnung für uns ganz allein gefunden hatten, begann die Zeit der Depression. Zumindest sagte man uns das. Depression war für uns nichts Neues. Das einzige Neue waren die Lebensmittelmarken, und das war auch das Einzige, was uns noch gefehlt hatte.
Wir zogen in eine Wohnung in der 139. Straße. Wenig später geschah es dann das erste Mal, soweit ich mich erinnern konnte, dass meine Mutter zu krank war, um am Sonntag in die Kirche zu gehen. Und wenn sie das nicht einmal mehr schaffte, musste sie schon sehr krank sein. Solange sie jeden Morgen ihren Kaffee und jeden Sonntag eine Messe bekam, glaubte sie, immer so weiterarbeiten zu können. Nun musste sie allerdings aufhören, als Hausmädchen zu arbeiten, da ihr Magen schon so kaputt war, dass sie nicht einmal mehr gehen konnte. Alles, was sie tun konnte, war ruhig im Bett zu bleiben.
Das bisschen Geld, das wir gespart hatten, näherte sich schon bald seinem Ende, und sie geriet in Panik. Sie hatte fast ihr ganzes Leben gearbeitet, und das begann man ihr auch anzusehen. Außerdem waren da noch die ständigen Sorgen um meinen Vater gewesen, die ihr das Leben auch nicht erleichtert hatten. Zum einen hatte ich beschlossen, mit meiner Arbeit als Callgirl endlich Schluss zu machen, zum anderen wollte ich aber auch nicht wieder als irgendjemandes verdammtes Mädchen arbeiten, und da wir anscheinend andauernd Miete zahlen mussten, kostete es mich schon eine ganz schöne Anstrengung, meine Vorsätze nicht über Bord zu werfen.
Ungefähr zu dieser Zeit trat Fletcher Hendersons Band unten in der Stadt im Roseland Ballroom auf. Es war die erste Negro Band, die dort arbeitete, und mein Vater war als Gitarrist mit dabei. So krank wie meine Mutter auch war, immer noch war sie zu stolz, um sich an meinen Vater zu wenden und ihn um Hilfe wegen der Miete zu bitten. Sie mag zu stolz gewesen sein, ich war es nicht.
Ich ging einfach hin und stellte ihm nach. Mein Vater war damals Anfang dreißig, wollte aber, dass niemand etwas davon erfuhr, besonders nicht die jungen Dinger, die immer am Bühnenausgang rumhingen und auf die Musiker warteten. Ich war damals um die fünfzehn, sah aber aus wie wahlberechtigt. Ich wartete also im Gang auf ihn und versuchte seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, indem ich »Hey, Paps« rief. Sofort merkte ich, dass ihn allein die Tatsache, dass ich ihm so zuwinkte, auf fünfundvierzig altern ließ, und das mochte er nun überhaupt nicht. Also stürzte er auf mich zu und flehte mich an. »Du kannst machen was du willst, aber nenn mich bitte nicht Paps vor all den Leuten.«
»Ich werde dich so lange Paps nennen, bis du mir etwas Geld für die Miete gibst«, antwortete ich, und das überzeugte ihn.
Stolz wie ein Pfau brachte ich das Geld nach Hause. Um meine Mutter nicht zu verletzen, erzählte ich ihr nicht, wo ich das Geld her hatte, und sagte schließlich, als sie keine Ruhe geben wollte, dass ich es gestohlen hätte. Wir stritten uns daraufhin, und sie sagte mir, dass ich doch noch eines Tages im Gefängnis landen würde.
Eines Tages, als die Miete wieder mal überfällig war, bekam sie die Nachricht, dass man uns auf die Straße setzen würde. Es war mitten im tiefsten Winter, und sie konnte noch nicht einmal gehen.
Ich wusste nicht, dass man im Norden so mit den Menschen umging. So schlimm es auch im Süden war, auf die Straße wurde man nie gesetzt. Als es also soweit war, dass wir die Wohnung am nächsten Morgen zu räumen hatten, sagte ich zu meiner Mutter, dass ich alles tun würde, egal ob morden oder stehlen, um das, was sie mit uns vorhatten, zu verhindern. Es war eine höllisch kalte Nacht, als ich das Haus ohne Mantel verließ.
Ich ging die Seventh Avenue von der 139. bis zur 133. Straße runter und fragte in jedem Lokal nach Arbeit. Damals war die 133. Straße die Straße der Jazzlokale und des Jazz überhaupt, so wie es später die 52. Straße zu sein versuchte. Überall war etwas los in den Restaurants und den Cafés, den normalen oder denen, die die ganze Nacht aufhatten. Und fast jeder Block hatte fast ein Dutzend davon.
Als ich schließlich bei Pod’s and Jerry’s landete, war ich verzweifelt. Ich ging rein und verlangte den Chef – ich glaube, ich habe mit Jerry gesprochen. Ich sagte ihm, dass ich Tänzerin wäre, und es hier mal versuchen wollte. Ich kannte damals genau zwei Schritte: Den normalen und den Wechselschritt. Ich wusste nicht einmal, dass es so etwas wie Vortanzen überhaupt gab, doch genau das wollte ich.
Jerry schickte mich also rüber zu dem Pianisten und ließ mich etwas vortanzen. Es war eine peinliche Angelegenheit. Ich machte immer und immer wieder meine zwei Schritte, bis Jerry mich schließlich anbrüllte und sagte, ich solle aufhören seine Zeit zu vergeuden.
Sie waren drauf und dran mich rauszuschmeißen, aber ich bettelte immer weiter um einen Job. Schließlich bekam der Pianist Mitleid mit mir. Er drückte seine Zigarette aus, sah mich an und sagte: »Hör mal, Mädchen, kannst du nicht vielleicht singen?«
»Natürlich kann ich singen«, antwortete ich, »aber für was soll das schon gut sein?« Ich hatte mein ganzes Leben lang gesungen und immer so einen Spaß dabei gehabt, dass ich nie auf den Gedanken gekommen war, damit Geld zu verdienen. Außerdem war damals gerade die große Zeit vom Cotton Club und all den Glamourmiezen, die nichts weiter taten, als schön auszusehen, ein bisschen mit den Hüften zu wackeln und das Geld einzusammeln.
Ich dachte, dass man nur so zu Geld kommen könnte, und ich brauchte fünfundvierzig Dollar bis zum nächsten Morgen, damit sie meine Mutter nicht auf die Straße setzten. Von Sängern hatte man damals noch nichts gehört, außer vielleicht von Paul Robeson, Julian Bledsoe oder jemandem mit ähnlich legendärem Ruf.
Ich sagte dem Pianisten, er solle »Trav’lin’ All Alone« spielen. Ein Lied, das genau ausdrückte, wie ich mich in diesem Augenblick fühlte. Irgendwas von dem, was ich sang, musste auch auf das Publikum übergesprungen sein, denn die Kneipe wurde plötzlich mucksmäuschenstill. Hätte jemand auch nur eine Nadel fallen lassen, es hätte sich wie eine Bombe angehört. Als ich zu Ende gesungen hatte, heulte jeder im Lokal in sein Bier, und ich sammelte achtunddreißig Dollar vom Boden auf. Als ich in dieser Nacht das Lokal verließ, teilte ich die Einnahmen mit dem Pianisten und nahm immer noch siebenundfünfzig Dollar mit nach Hause.
Ich kaufte ein ganzes Hähnchen und Baked Beans, die meine Mutter so mochte. Dann raste ich die Seventh Avenue hoch zu unserer Wohnung. Als ich meiner Mutter das Geld für die Miete zeigte und sagte, dass ich eine richtige Arbeit als Sängerin für achtzehn Dollar die Woche gefunden hatte, konnte sie es kaum glauben.
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