Blog: https://abenteuerbaltikum.com/2017/05/06/swinemuende-misdroy/
Am Tag 6 dachte ich erstmals über einen Pausentag nach. Auch wenn alles gut lief, würde ich neben Punkt 1 (dehnen!) auch Punkt 2 erfüllen müssen (nicht übertreiben). Nur dann blieb ich gesund. Aber es sollte nicht irgendein Kaff sein, wo ich pausieren wollte und so lief ich weiter. Der Tag hatte es in sich: Misdroy war zu nahe und so lief ich auf einer Landstraße im Halbkreis um den Wolin (einer Art bewaldeter Berg) herum. Meine Bedenken, dass unterhalb der Steilküste eben deren Steine mir den Weg versperren, hielten mich davon ab, wieder am Strand zu laufen. Später sah ich von einem grandiosen Aussichtspunkt 100 m über dem Strand, dass dieser absolut steinfrei und herrlich gelb und glatt war. Tja, da hätte ich auch lang laufen können. Stattdessen hatte ich den Umweg über eine stark befahrene Straße und viele Höhenmeter in den Beinen.
Irrwege wird es immer geben. Die Zimmersuche im nachfolgenden Ort gestaltete sich aussichtslos und so musste ich immer weiter, letztendlich bis nach Kołczewo: 37 km im Ganzen. Die Unterkunft war schön, aber eisekalt, die Dusche brauchte auch einige Stunden, um aufzuheizen. Ich war offenbar der erste Gast des Jahres. Zu essen gab es auch nichts, aber ich hatte ja meine Trekkingnahrung dabei: viel Energie mit wenig Gewicht. Aber alles in allem war es die kälteste Nacht meines Abenteuers. Ich fand zwei ältere Heizlüfter, die ich in Stellung brachte und es gab eine kleine Wandheizung plus einen Elektroherd in dem Sommerhaus. Kein Wunder, dass ich nun das nächst darunter liegende Energielevel erreichte.
Tag 7 und 8 mit jeweils 27 km waren wirklich schön und spannend. Ich traf Leute, genoss die Freuden der Vorsaison, bestieg Leuchttürme, begann mit einem Wörterbuch polnisch zu lernen und aß zwischendurch immer Kuchen und Eis, damit der Tank nicht leer lief. In dem Ort mit dem unaussprechlichen Namen Mrzeżyno am Tag 8 brauchte ich eine Pause. Eigentlich wollte ich bis zum angesehenen Ostseebad Kołobrzeg (Kolberg) durchziehen. Aber irgendwie hatte ich mich – wahrscheinlich in Kołczewo in dem kalten Sommerhaus – erkältet.
Blog: https://abenteuerbaltikum.com/2017/05/08/dziwna-pobierow/
Und: https://abenteuerbaltikum.com/2017/05/10/rewal-niechorze-mrzezyno/
Es sollte meine am längsten andauernde Laufserie bleiben – acht Tage mit immerhin 210 km – mit meinem Ziehwagen Benpacker, mit Gegenwind, mit überraschend vielen Höhenmetern. Ich war stolz wie Bolle, aber auch angeschlagen. Wenn die Reise nicht jetzt zu Ende gehen sollte, musste ich pausieren. Der Grund war die Erkältung, aber natürlich freute sich auch die Anatomie über einen Tag ohne Lauf. Ich schluckte ein Breitband-Antibiotikum, zwei auf einmal und dann zwei pro Tag über zehn Tage. Selbst wenn ich gekonnt hätte, gab es zwei wichtige Gründe, jetzt nicht zu übertreiben: Herzgefäßen. Und Laufen unter Medikamenteneinfluss ist eh schädlich für Niere und Leber. Denn die Organe sind ja mit der Müllentsorgung beschäftigt und kommen beim Laufen ohnehin (normalerweise) unter gesunden Stress.
So erkundete ich am 9. Mai als früher Tourist den Ort Mrzeżyno, der noch im Dämmerschlaf war. Auch hier gab es ein Fischrestaurant, gegenüber der Fischkutter, die ihn angelandet hatten. Das war zwar mal wieder nicht vegetarisch, aber regional und frisch. Ich las den ersten der Kommissar Dupin-Krimis, versuchte polnisch zu sprechen und setzte mich im Windschatten in die Sonne.
Herrlich!
Blog: https://abenteuerbaltikum.com/2017/05/10/mrzezyno/
Um mich zu schonen, lief und ging ich im Wechsel die 20 km bis nach Bakterien und Viren suchen sich ihr Nest, wenn‘s sein muss auch an den Kolberg, wo ich dann nochmals einen Pausentag einlegte. Hier gab es mehr zu sehen und der Hauch des Postkommunismus verband sich auf eigentümliche Weise mit dem Tourismusbetrieb auf kleiner Flamme. Keine Menschenmassen, der fehlende Geruch von Sonnenöl und überquellenden Mülleimern, stattdessen auf Anhieb ein Platz in der Rooftop-Bar eines moderneren Hotelbaus, die sich zu allem Überfluss auch noch langsam dreht, wie die Kugel auf dem Berliner Fernsehturm. Kolberg ist im Sommer richtig voll und bis auf den letzten Platz ausgebucht, aber jetzt wirkte es wie ein sanfter Kurort mit mäßigem Betrieb.
Nach 13 Tagen war ich „drin“. Drin im Rhythmus von täglichem Laufen, viel essen, Aussichtspunkten mitnehmen und der Konversation mit Händen und Füßen, plus 20 Worten polnisch. Russisch jedenfalls verbietet sich in Polen selbst dann, wenn man es perfekt könnte! Jeden Tag war es noch ein Stück länger hell, ich lief ja immer weiter nach Nordosten. Am Leuchtturm in Kolberg war schon Braniewo angeschrieben, das liegt an der polnisch-russischen Grenze!
Ich lief auf Waldwegen, Straßen, Schotterpisten und immer wieder sogar barfuß am Strand auf dem schmalen Streifen am Wasser entlang – auf ganz verschiedene Arten, aber eben meist glücklich. Darüber hatte ich mir vorher viele Gedanken Gedanken gemacht. Ich hatte dafür nicht trainiert und mir war schon etwas mulmig, jeden Tag 20 km zu planen.
Letztendlich kam ich nach 93 Tagen 2.040 km entfernt in Tallinn an. Ich nahm viele Umwege, vor allem über die estnischen Inseln Saaremaa und Hiumaa, sonst wären es womöglich nur 1.600 km geworden. Inklusive der Pausentage war ich jeden Tag knapp 22 Kilometer unterwegs. An den Lauftagen waren es mehr als 26 km im Schnitt. Das ging wunderbar.
Denn die Geschwindigkeit ist nicht so hoch. Ich brauchte 6:30 min für einen Kilometer, das ist gut eine Minute mehr als sonst bei meinen alltäglichen Läufen. Da waren auch mühsame Wandertage dabei und so mancher Halbmarathon auf der Landstraße unter 2 Stunden. Der Schlüssel, jeden Tag so weit laufen zu können, liegt in der langsamen Geschwindigkeit. Da stellt sich kein Muskelkater ein und ich brauche trotzdem nur die halbe Zeit eines Wanderers. Langsamer und weiter laufen, das könnte ein Rezept für das Alter sein.
So stellte sich im Verlauf der vielen Wochen im Baltikum eine „Ultralauffähigkeit“ ein. Einige Monate nach meiner Rückkehr probierte ich Ultraläufe aus, aber nur 63 bis 75 km Strecken. Ich absolvierte sie verletzungsfrei und gut. Unglaublich, wie weit manche laufen können. Ich fühlte mich irgendwie stark und autark dabei und weiß nun, wie weit ich im Notfall zu Fuß kommen würde.
Dass ich aber doch gern schneller laufe, stellte sich auch heraus (wenn ich nicht gerade einen Benpacker mit 30 Kilo Gepäck dabei habe). Ich habe weiter Spaß auch an Wettrennen auf der Straße.
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