Nach Greifswald soll ein Campingplatz kommen, aber der hat geschlossen. So laufe ich immer weiter, bis wieder ans Meer. Puhh, das waren dann letztendlich über 36 km. Das ist schon viel. Immerhin – Berge gibt es hier nicht – so sind die Oberschenkel OK. Es geht mir gut, es gibt in einer Pension am Meer auch was zu essen und das Zimmer ist zwar vom Winter noch etwas muffig, aber gemessen am Preis ist es OK. Ich muss mich gut dehnen heute, sonst bekomme ich Probleme. Das wird mir jetzt nochmal klar, obwohl ich dafür überhaupt keine Lust habe. Das wird mir in den nächsten 90 Tagen so gehen. Laufen täglich OK, aber dehnen ist auch ganz wichtig. Ich mache ein paar Übungen, die mir zeigen, wie gespannt die Sehnen wirklich sind. So läuft es: Ich muss mich so viel dehnen, dass der morgige Lauf meinen Körper nicht mehr beansprucht als heute. Mobilfunk gibt es nur am Strand, wo es wieder windig ist. Wahrscheinlich sprechen die Küstenbewohner dabei noch nicht von Wind, für mich ist es kurz vorm Sturm. Ich friere sofort wieder im Wind, denn ich bin es nicht gewohnt, den ganzen Tag draußen zu verbringen. Mein Bedarf ist erhöht: 1500 kcal mehr als an einem Tag ohne Lauf. Die muss man auch erstmal reinschaufeln. Und ich sollte mir Gedanken machen zum Energieverbrauch: Vielleicht hilft dickere Kleidung – also ein Teil mehr überziehen zum Beispiel. Das hab ich nicht gern und mehr Klamotten, mehr Waschbedarf. Sollte es regnen, würde das Teil auch zusätzlich nass sein. Und ich sollte nicht so gegen den Wind anrennen, sondern lockerer traben. Das fällt mir schwer.
Letztendlich schlafe ich wieder ein mit dem herrlichen Gefühl der Freiheit, des Abenteuers und der Erwartung des „Mehr davon“. Dabei ist noch gar nicht viel passiert. Der Wagen mit seinen 30 Kilo rollt sehr leicht. Wenn das Gewicht über der Achse austariert ist, liegt auch kaum Gewicht auf dem Hüftgurt. Offenbar entscheiden Kleinigkeiten beim Packen über den Komfort beim Laufen: Denn manchmal schaukelt sich der Wagen durch meine Schrittfrequenz auf und dann reißt er am Gurt. Die Idee, dann die Schrittfrequenz zu ändern, kann ich schnell als Illusion verwerfen. Ich habe sogar gehört, dass jedes Gespannpferd seine eigene Frequenz hat und man nur zwei davon zusammenspannen kann, wenn sie auch taktmäßig zueinander passen. So habe auch ich eine individuelle Takt-Schrittfrequenz und Schrittlänge. Und Pferde sollten generell keinen Wagen ziehen, sondern frei sein! Um den Wagen in den Griff zu bekommen, kann ich nur umpacken. Nach einigem Ausprobieren weiß ich: Vorn mehr Wasser und schwere Lebensmittel, hinten mehr leichte Klamotten und Trockenfutter. In der Gepäcktasche rutscht durch die Aufteilung des Packraums nicht alles durcheinander.
Tag 2 im Blog: https://abenteuerbaltikum.com/2017/05/03/greifswald-gahlkow/
Am Tag 3 geht‘s vorbei an einem ehemaligen Atommeiler durch das Fischerdorf Freest mit leckerem Fisch am Hafen, dann mit der Fähre rüber nach Usedom. So kurz die Überfahrt auch ist – ich bin am Meer, ich bin „on track‘‘ und komme wieder mal in Hochstimmung. Ich ignoriere, dass ich schon am Tage friere, obwohl ich mich umziehe und die nassen Sachen bei Sonne und Wind trockne. Ich suche mir den Heilbutt, einen sehr fettigen Fisch aus, um Energie zu tanken. Kaum angekommen in meiner Ferienwohnung in Karlshagen, mache ich mich ohne Wagen zu einem Strandrestaurant auf – im Laufschritt, um nicht zu erfrieren. Das niedrige Energielevel kann ich nicht länger verdrängen und hoffe aber darauf, dass sich mein Körper mit der neuen Situation anfreundet. Ich esse zwei Hauptgerichte. Das fällt mir nicht schwer, denn ich esse gern, auch wenn es so halt teurer wird.
Blogeintrag: https://abenteuerbaltikum.com/2017/05/03/lubmin-freest-karlshagen/
Ich kenne die Frostattacken nach einem Marathon. Da steht man in Frankfurt überglücklich im grandiosen Zieleinlauf in der Messehalle, will noch etwas genießen, soll aber eigentlich weitergehen. Da drin ist es vergleichsweise warm und wenn man dann doch weiter geschoben wird an der Medaillenübergabe vorbei, raus aus der Halle, dann kommt so eine Art Innenhof mit Verpflegungsständen. Da habe ich dann schon derart gefroren, dass ich kaum was essen oder trinken konnte. Die Duschen sind unten in einer zugigen Halle (wahrscheinlich Parkhaus), da bin ich gefühlt fast erfroren. Die meisten anderen empfanden das als nicht so schlimm. Vielleicht ist das eine Spezialität von mir. Durch das Laufen hat man weniger Fettpolster, die einen isolieren würden. So ähnlich erging es mir am 4. Tag bei meiner Ankunft in Kölpinsee. Die Ausflugslokale sind nun mal keine urigen Alpenhütten mit Kachelofen, sondern auf Sommer, Sonne, Strand und Mücken ausgelegt. Da war es am 4. Mai dann auch nicht sonderlich warm und ich bestellte Tee, mehrere heiße Suppen und das Tagesgericht. Gut, dass ich vorerst auf das Schlafen im Zelt verzichtete, denn im Zimmer kann man doch meist eine Heizung bis zum Anschlag aufdrehen und sich notfalls die zweite Bettdecke drüber legen.
Blogeintrag: https://abenteuerbaltikum.com/2017/05/04/karlshagen-zinnowitz/
Die Buchenwälder auf Usedom, durch die ich von Ferienort zu Ferienort lief, waren einfach traumhaft. Es ging sanft auf und ab, auf teppichartigen Waldwegen. Der Wind war dadurch nicht zu arg und ich war am Tag 5 nun eindeutig über meine bisherigen Laufserien von maximal 3 bis 4 Tagen ohne Pause hinaus. Immerhin, bei meiner Ankunft in der Jugendherberge in Heringsdorf hatte ich mehr als 119 km auf der Uhr und war unverletzt, wenn auch durchaus belastet. Auch das machte mich glücklich. Ich hatte mein Dehnprogramm erweitert und draußen wurde es jeden Tag etwas wärmer. Wie lange würde es noch dauern, bis mein Körper sich damit abfand, dass das nun so weiter ginge?
Die letzten Kilometer in Deutschland waren eine Besonderheit: Die Orte Heringsdorf und Ahlbeck sind miteinander verschmolzen und es geht einige Kilometer direkt auf der schicken Strandpromenade mit den mondänen Häusern in preußischem Stil entlang. Ich laufe vorbei an der berühmten bebauten Seebrücke und den vielen weißen Villen – die so genannte Bäderarchitektur. Der Knaller aber waren die Menschen: Viele winkten mir zu und wünschten gute Reise. Sie riefen und strahlten im Kollektiv. Denn in der Ostseezeitung war ein ganzseitiger Artikel erschienen über meinen Lauf ins Baltikum und nach dem Frühstück waren praktisch alle Gäste der Vorsaison informiert. Einen herzlichen Dank an die Redaktion, die mir auch die drei Sponsoren für die Unterkünfte auf Usedom besorgt hatte. Gut so, denn sonst wäre ich erfroren. Ich war wieder mal in Hochstimmung und ließ mich von Passanten an dem Grenzdenkmal nach Polen fotografieren. Auf der Fähre nach Swinemünde empfahl mir ein Radlerpaar aus dem Rheinland die Konditorei auf der Seebrücke in Misdroy. Da gibt es die mit Abstand größten Sahnetorten, die ich je in meinem Leben gesehen hatte. Wahrscheinlich war ich der einzige Mensch zu der Zeit dort, der die Kalorienbomben direkt in Bewegungsenergie umsetzen umsetzen konnte.
Blog: https://abenteuerbaltikum.com/2017/05/05/heringsdorf-ahlbeck/
Kurz vor Misdroy probierte ich barfuß im Sand zu laufen. Das war eine meiner vielen Vorstellungen von diesem Abenteuer: Viele Kilometer Am Strand barfuß laufen – welch eine Wohltat. Es wurden erstmal nur 4 Kilometer, denn mit Muschelschalen und kleinen Steinchen wirkte der Strand doch recht grob auf meine zarten Fußsohlen. Es war trotzdem eine Wohltat, aber an der besagten Seebrücke musste ich ohnehin hoch auf die Strandpromenade. Ich nahm mir vor, das öfter zu machen und mich so auch mit Sandläufen (an der Wasserkante, nicht im tiefen, weichen Sand) zu konditionieren. Die Füße sind meine eigentliche Schwachstelle und die werden auch nicht durchs Dehnen wesentlich besser. Einige Monate vorher hatte ich Probleme mit der Plantarfaszie, der Sehnenplatte in der Fußsohle. Linderung bringt ein Golfball, auf dem man mit den blanken Füßen rollt. Hier war der sandige Untergrund die reinste Therapiesitzung.
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