Es war die erste von unzählig vielen kleinen Begegnungen und Geschichten, die mir passierten. Es sind hunderte, an die ich mich erinnern kann. Die habe ich oft auch in meinen täglichen Einträgen in meinem Blog erwähnt. Wo es passt, füge ich den Link zu der Geschichte im Blog ein, und so kann man sie im Original nachlesen auf https://abenteuerbaltikum.com
Die erste Geschichte beginnt hier: https://abenteuerbaltikum.com/2017/05/01/stralsund-stahlbrode/
Und so mache ich die ersten Schritte am Bahnhof in Stralsund. Ich will das nicht überhöhen, aber es ist für mich ein riesiger Schritt, den ersten von 2.000 Kilometern anzugehen. Ich spüre das, was ich mir unter „mit weitem Herzen und frohem Mute“ vorstelle. Diese Weite, diese Unabhängigkeit – herrlich! Die Entfernung ist dabei nicht so entscheidend. Zwanzig, dreißig Kilometer sind keine Besonderheit für mich, das mache ich öfter schon mal. Aber jeden Tag? Nun, warum soll es nicht funktionieren, wenn man es nicht übertreibt? Bis jetzt ist das eine Theorie (und die Erfahrung anderer Abenteurer), nun werde ich sehen, ob ich das kann – das tägliche lange Laufen und das Nicht-übertreiben.
Am liebsten laufe ich ohnehin in Gedanken und weiß nicht so ganz genau, wieviele Kilometer, oder gar Schritte ich bisher gelaufen bin. Es wäre eine langweilige Plackerei, wenn man jeden Kilometer mitzählen würde. Nur am Ende trage ich den Lauf in mein Laufbuch ein – eine langjährige Tabelle. Dann freue ich mich und bin motiviert, da beim nächsten Mal weiter zu machen. Lange hatte ich keine Laufuhr und will auch keine, auch nicht die Ansagen oder gar motivierenden Aufrufe einer App.
Denn sonst wäre es Training. Ich will nicht trainieren, ich will laufen. Das ist in meinem Alter ohnehin die bessere Wahl. Das Kilometerzählen nähme mir einen Teil des Genusses. Ich spüre ohnehin meist intuitiv, ob es gut läuft, ob es rollt, oder ob ich gar im Flow bin. Zum Flow gehört es ja, dass man nicht über ihn nachdenkt. Selbst wenn man bemerkt: „Ich bin im Flow“, kann ihn das schon kippen.
Mein Weg aus Stralsund über holprige Neben- und Landstraßen führte mich nach Stahlbrode. Diese allererste Etappe hatte ich mir so oft auf der Karte angesehen und es war jetzt äußerlich erstmal nichts Besonderes dabei. Ich hatte mir oft vorgestellt, wie es sein musste, mit frohem Herzen auszuziehen in die Ferne, den frischen Wind um die Nase, die Sonne von vorn und überglücklich. Und so war es auch. Nur ohne Sonne. Es war das reine schwebende Glück, das nur durch den schlechten Weg und das ziemlich heftige Gewicht an meinem Hüftgurt hin und wieder in Realität umschlug. Teils kein Radweg, teils eine Leitplanke im Weg, verständnisvolle und verständnislose Autofahrer und drei wirklich alte Frauen auf einer Sitzbank vor einer vorpommerschen Kate waren meine ersten Eindrücke. Diese Frauen hatten Kopftücher auf und saßen nur so da. Das Wort „Kopftuchverbot“ war gerade in Mode und wenn es denn käme, hätten die drei sicher darunter zu leiden. Denen winkte ich zu und sie guckten nur zufällig in meine Richtung, aber ohne sich irgendwie zu regen. Cool, das gab es nur im Norden. Sicher dachten sie irgendwas oder brummten sich etwas zu, aber eben unmerklich. Wieder so eine Begegnung. Das gefiel mir und ich merkte, wie ich alles nur so aufsog und von nun an auch die Zeit hätte, es aufzusaugen. Das wahre Leben, der Alltag hier und da, die Freiheit, das mit eigenen Augen anzusehen!
Ich laufe also Tag 1 und habe den Auftakt. Es fühlt sich so an, wie ich es kenne, was Beine, Rumpf und Kreislauf angeht. Ein schönes Gefühl – keine Überlastung, fast so, wie nach getaner Arbeit, nur schöner. Laufen ist ja, mal abgesehen von meinem Fortkommen auf der Reise, an sich „nutzlos“ im materiellen Sinne. Aber es bringt so viel, was man mit Geld nicht kaufen kann. In einem Psychoworkshop vor vielen Jahren sollten wir mal aufzählen, was wir uns Gutes tun können für den Preis von unter 5 Mark und ohne Hilfe anderer. Mir fiel damals ein: Tasse Kaffee + warmes Wannenbad. Heute würde ich sagen: „raus und laufen“. Die Badewanne danach finde ich heute noch genauso super, nur ist sie nochmal schöner als ohne Lauf davor. Und dann einen heißen Kakao! Den würde ich heute nicht bekommen.
In Stahlbrode war ich das erste Mal direkt am Ufer der Ostsee. Das war schon eine echte Ankunft. Etappe 001 Wind pfiff und sobald ich nicht mehr lief, fing ich an zu frieren. Drei Studenten mit ihrer nagelneuen Kamera auf einem Stativ machten Fotos und ich bat sie, mich abzulichten. Schnell gab ich noch meine E-Mail-Adresse und flüchtete in den Hafen-Imbiss. Puhh, war das kalt. Hier konnte ich mir was überziehen und etwas essen. Fisch natürlich – aus der Ostsee – woher sonst? Ich hatte noch ein paar Tage ein schlechtes Gewissen, weil ich mehr oder weniger konsequenter Vegetarier bin. Aber mit einer gewissen Verdrängungstaktik aß ich dann wochenlang Fisch und hier und heute eben meinen ersten nach langer Zeit – köstlich!
Campingplatz Stahlbrode, mein Zelt ist zum ersten Mal im Einsatz und ich rolle mich schon gegen 19:30 Uhr zusammen. Was sollte ich auch tun? Keine Menschenseele in der Nähe, viel Wind und ich fror weiterhin. Es gab wohl auch Duschen und ich geh echt nur ungern ungeduscht ins Bett. Aber bei diesem Wind und der Kälte… Im Norden zieht es halt und Wind ist, wenn die Schafe keine Locken mehr haben. Davon sind wir hier noch weit entfernt. An diesem Abend krabble ich also ohne Dusche ins Zelt, es ist einfach zu kalt, weil es so windig ist. Das ist auch nicht so schön, aber das Gefühl „Wow, ich bin unterwegs!“, überstimmt alles andere. Immerhin war ich seit fünf Uhr auf den Beinen. Ich hatte es getan. Erst hatte ich es beschlossen, dann geplant und dann hatte ich meine Reise heute begonnen. Das war eigentlich sehr einfach und doch irgendwie sensationell.
Geduscht hab ich dann doch noch am anderen Morgen – sogar warmes Wasser gab es und die Sonne schien. Der Wind hatte sich gelegt, ich packte das erste Mal wieder alles zusammen. Das würde ich nun jeden Morgen machen. Was für eine Änderung im Leben! Ich lief nach einem Abstecher an den Hafenkiosk zwecks rustikalem Frühstück (da gibt’s eigentlich nichts ohne Fisch), auf meiner zweiten Etappe nach Greifswald. Die meiste Zeit ging es auf der ehemaligen mit Granit gepflasterten Bundesstraße entlang. Es ist eine der vielen Alleen im Osten Deutschlands, die neue Bundesstraße verläuft parallel. Das Laufen fühlte sich normal an, wie an einem Sonntag, wenn ich samstags auch schon gelaufen war. Also immer noch alles im ganz normalen Rahmen und weiter nichts Besonderes.
Die Ostsee war hier weit weg, aber der Wind wehte wieder. Gegenwind finde ich gut, der spornt mich irgendwie an und ich bin gefühlt fast schneller als sonst. Er kostet mehr Energie, auch zusätzlich durch mein Anrennen, aber so bleibe ich im Allgemeinen wärmer. Das ist eine Art „Energieverschwendung“, die auch angenehm ist. Ich befrage kurz meinen Geist, ob das überhaupt klug ist, so zu rennen. Denn immerhin habe ich den Wagen dabei, der auf dem Pflaster teilweise ganz schön rumpelt. Aber dann beschließe ich, die Frage als müßig abzutun, denn ich mache sowieso was ich „innen drin“ will, nicht was vernünftig ist.
Die Hauptkirche von Greifswald kommt schon früh in Sichtweite und ich bin happy. Es läuft! Es funktioniert! Ich reise in Laufschuhen um die Welt! Dafür werde ich noch ein paar Tage brauchen, bis ich das wirklich „gefressen“ habe, dass das auch so ist. Klar, die Beine spüre ich, aber warum auch nicht? Das Granitpflaster erscheint mir härter als Asphalt und ich bin froh, als es auf der Teerstraße weiter geht. Dabei ist das wahrscheinlich 100 % Einbildung. In Greifswald treffe ich einen Geschäftspartner, der auch ein sehr guter Läufer ist. Wir essen etwas und treffen ein paar Absprachen. Die werde ich später an meine Mitarbeiter senden, als vorläufig letztes Stückchen Arbeit bis zu meiner Rückkehr.
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