Herriot erwiderte ebenso heftig, daß er gar nicht daran denken könne, kürzere Räumungsfristen zuzugestehen. Er habe ohnehin schon mit Nollet und Foch in Paris die heftigsten Zusammenstöße gehabt; man habe ihm vorgeworfen, seine eigenen Ministerkollegen hintergangen zu haben. Er sei überhaupt nur nach Paris gefahren, weil er eingesehen habe, daß in der Räumungsfrage etwas geschehen müsse. Auch MacDonald habe ihn übrigens genau so wegen der Ruhr bedrängt, aber es sei jetzt, nachdem er mit so vieler Mühe in Paris ein einigermaßen befriedigendes Ergebnis erzielt habe, für ihn eine große Enttäuschung, wenn Stresemann nun erkläre, er könne sich damit nicht zufriedengeben.
Trotzdem versuchte Stresemann noch mehrmals, bei Herriot eine Verkürzung der Räumungsfrist durchzudrücken. Es dürfe sich nicht um Monate, sondern nur um Wochen handeln. Eine andere Lösung könne er gegenüber dem deutschen Parlament nicht vertreten.
Mit einem fast gequälten Gesichtsausdruck wiederholte Herriot seine Einwendungen, und man schien völlig festgefahren zu sein. In dieser Situation kam Stresemann auf einen Ausweg. Er sagte, in Deutschland würde nicht nur der Abschluß der Räumung, sondern auch deren Beginn von großer Bedeutung sein. Er frage daher Herriot, ob die Räumung wenigstens unverzüglich beginnen könne.
Diesen Gedanken griff Herriot sofort mit einer gewissen Erleichterung auf. Er meinte in erheblich ruhigerem Ton, daß sich darüber natürlich reden lasse und erwähnte dabei etwas von einem Räumungsplan, zu dessen Ausarbeitung er bereits Auftrag gegeben habe. Er würde ihn Strese mann in den nächsten Tagen vorlegen.
So hatte denn die beiderseitige Erregung doch ein gewisses Ergebnis gezeitigt. Stresemann konnte jedenfalls für sich buchen, daß er zwei Schritte vorwärtsgekommen war. Er hatte erreicht, daß die französische Weigerung, überhaupt Abmachungen über die Räumung zu treffen, nicht mehr aufrechterhalten wurde und hatte darüber hinaus eine gewisse Aussicht auf einen baldigen Räumungsbeginn gewonnen. Denn es war klar, daß Herriot in diesem Punkt mit sich reden lassen würde.
Als dann die Anleihefrage erörtert wurde und Stresemann von den Schwierigkeiten sprach, die von den Bankiers gemacht würden, brauste Herriot sofort wieder auf. Besonders ärgerlich schien er auf die Amerikaner, zu sein. Ein amerikanischer Bankier, erfuhren wir bei dieser Gelegenheit, habe ihm eine Liste von 25 Bedingungen überreicht, darunter eine ganze Reihe von politischen Forderungen, von denen die Bankiers die Gewährung der Anleihe abhängig machten. Wenn von den Banken der Versuch gemacht werde, sich in die Politik einzumischen, so verzichte er lieber auf den ganzen Dawes-Plan, rief er erregt Stresemann zu.
Über die Räumungsfrage wurde dann noch tagelang verhandelt. Langsam wurden Fortschritte gemacht. Der Kreis der Teilnehmer erweiterte sich. Marx und Luther begleiteten Stresemann. Der Reichsfinanzminister Luther beteiligte sich äußerst aktiv an den Verhandlungen, und zwar nicht nur auf seinem eigentlichen Sachgebiet, sondern auch in den politischen Fragen. Herriot brachte zu den vorerwähnten erweiterten Verhandlungen den belgischen Ministerpräsidenten Theunis und dessen Außenminister, Hymans, mit. Man trat zu sogenannten „Dreiecksbesprechungen“ zusammen. Die Engländer beteiligten sich nicht unmittelbar, um die Fiktion aufrechtzuerhalten, daß auf der Konferenz selbst nur vom Dawes-Plan gesprochen würde.
Aber indirekt versuchte Stresemann auch über MacDonald und über den amerikanischen Botschafter, Kellogg, den späteren Außenminister, auf Herriot einzuwirken. Beide versicherten ihm, ihr Möglichstes getan zu haben, konnten aber von keinem Erfolg berichten. Kellogg fügte noch hinzu, er glaube nicht, daß Herriot formell unter die einjährige Räumungsfrist heruntergehen könne, nehme aber an, daß er nach einer Einigung über das Dawes-Abkommen die Räumung doch in Etappen durchführen werde. Es bestehe also Aussicht, daß sie noch in diesem Jahre beginne.
In den nächsten Tagen überstürzten sich die Einzelbesprechungen zwischen den Delegationen Deutschlands, Frankreichs und Belgiens. Dabei wurde um die kleinsten Zugeständnisse in der nunmehr doch im Mittelpunkt der Londoner Konferenz stehenden Ruhrfrage gekämpft. So versuchte z. B. Stresemann, den Beginn der Räumungsfrist vom Tage der Unterzeichnung der Londoner Abmachungen auf den Zeitpunkt der Einigung zwischen den drei Delegationen vorzuverlegen, ein kleiner Unterschied, der aber doch zeigt, wie von deutscher Seite um jeden Fußbreit Gewinn gerungen wurde.
Im Verlauf dieser Verhandlungen beschwor Stresemann mit der Erklärung, er müsse um eine Verschiebung der Konferenz bitten, da er ohne Zustimmung des Berliner Kabinetts und der deutschen Parteien keinesfalls die einjährige Räumungsfrist annehmen könne, eine Krise herauf. Besonders die Belgier schienen über die Entwicklung sehr besorgt zu sein und ließen durchblicken, daß Herriot doch in der Lage sei, mit einer Teilräumung früher zu beginnen. Selbst Nollet versuchte, eine Unterbrechung der Konferenz, die durch die in Aussicht genommene Rückkehr des Finanzministers Luther zur Berichterstattung nach Berlin hervorgerufen worden wäre, zu unterbinden.
Diese „Dreiecksbesprechung“ fand im Garten der Amtswohnung Mac-Donalds hinter dem Hause Nr. 10 Downing Street statt, wo die Augusthitze Londons durch die leise Brise, die vom Green Park herüberwehte, gemildert wurde. Nach einiger Zeit kamen MacDonald und Kellogg hinzu und brachten auch ihrerseits ihre Bedenken gegen eine Vertagung zum Ausdruck. Als Stresemann aber beharrlich bei seinem Standpunkt blieb, daß angesichts der Unnachgiebigkeit der Franzosen eine Rücksprache in Berlin unumgänglich nötig sei, wolle man nicht den ganzen Vertrag in Gefahr bringen, stand Herriot auf, nahm Marx, Stresemann und mich beiseite und erklärte sich überraschenderweise bereit, doch eine Räumung in Etappen vorzunehmen. Er bat allerdings um absolute Diskretion, da er mit dieser Zusage über die ihm von Paris auferlegten Beschränkungen hinausgehe.
Marx und Stresemann gaben erleichtert ihrer Zufriedenheit über diese Zusicherung Ausdruck, erklärten aber gleichzeitig, daß sie wegen des ihnen auferlegten Schweigegebotes im gegenwärtigen Augenblick nicht viel damit anfangen könnten, wo es sich darum handele, die Zustimmung des Berliner Kabinetts und der deutschen Parteien zur Unterzeichnung des Dawes-Abkommens zu erreichen.
Herriot erwiderte nichts darauf, und die drei Staatsmänner kehrten mit mir wieder an den Gartentisch zurück, an dem die übrigen Teilnehmer der Besprechung mit gespannten Blicken auf uns gewartet hatten.
Zu meiner großen Überraschung begann dann Herriot ganz offen von der Geste einer etappenweisen Räumung zu sprechen. Er holte sogar eine Karte hervor, auf der, soweit ich sehen konnte, die Räumung in Etappen schon eingezeichnet war. Nun wurden Marx und Stresemann von allen Seiten bestürmt, die Berliner Reise Luthers aufzugeben und die Zustimmung aus Berlin telegraphisch einzuholen. Sie erklärten sich jedoch lediglich bereit, diese Frage noch einmal zu prüfen. Hätte ich schon eine größere Konferenzerfahrung gehabt, so hätte ich gewußt, daß dies natürlich die Aufgabe des Reiseplanes bedeutete.
Am Abend hörte ich dann aus einer Delegationssitzung, daß die Reise Luthers nun tatsächlich nicht stattfinden würde und daß ein langes Telegramm mit einer Darstellung der gesamten Konferenzlage und des Abkommens, so wie es sich aus den Beratungen bisher ergab, nach Berlin abgegangen sei.
Am nächsten Tage schon antwortete das Auswärtige Amt, in einer unter Vorsitz des Reichspräsidenten Ebert abgehaltenen Kabinettssitzung sei der Delegation grundsätzlich die Genehmigung zur Annahme des Abkommens und der letzten Vorschläge Herriots erteilt worden. Damit war die Krise überwunden.
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