Ich bin übrigens überzeugt, daß man allerseits froh war, einen Sündenbock in dem unglücklichen Dolmetscher gefunden zu haben, und daß man durch seine Beseitigung gewissermaßen auch den politischen Stein des Anstoßes symbolisch aus dem Wege räumen konnte. Ich habe in späteren Jahren, besonders im Völkerbund, aber auch bei anderen Gelegenheiten diese nützliche Rolle des Dolmetschers als Blitzableiter und Abladeplatz für schlechte Laune noch reichlich kennengelernt.
Die Geschichte war natürlich nach wenigen Stunden in aller Munde. Besonders die Journalisten bemächtigten sich dieses Zwischenfalles, der ja vielleicht besser als viele Worte die Schwierigkeiten beleuchtete, die auf der Konferenz zu überwinden waren. In Berlin erschienen sogar einige Zeitungen mit dicken Überschriften von dem „versagenden deutschen Dolmetscher“, und da der Name diskreterweise nicht genannt wurde, erhielt ich einige Tage später aus Deutschland einige besorgte Anfragen von Freunden, die schon gefürchtet hatten, daß ich bei der ersten Gelegenheit Schiffbruch erlitten hätte. Übrigens hatte auch der englische Dolmetscher, der MacDonalds Rede ins Deutsche übersetzte, bei unserer Delegation einiges Aufsehen erregt. Seine Übersetzung war zwar inhaltlich völlig einwandfrei, aber er war, wie viele Engländer, eine Zeitlang in Dresden in Pension gewesen und sprach daher manchmal reinstes Sächsisch. Schwierige Reparationsfragen in London auf Sächsisch auseinandergesetzt zu bekommen, wirkte aber auf die deutschen Delegierten selbst in den schwierigsten Situationen doch etwas erheiternd. Ein Lächeln huschte dann wohl gelegentlich über die sonst so ernsten Gesichter von Marx und Stresemann. Das hätte unter Umständen bei den übrigen Delegationen zu völlig falschen Rückschlüssen über die Aufnahme gewisser Vorschläge auf deutscher Seite führen können, wenn nicht aus den Antworten sofort der wahre Sachverhalt klargeworden wäre.
Inzwischen aber bereitete ich mich auf den großen Augenblick vor. Nach einem guten Abendessen und einem noch besseren Tropfen fuhr ich mit Marx und Stresemann am Abend dieses für mein Leben so wichtigen Tages zu der um 9 Uhr im englischen Auswärtigen Amt beginnenden Sitzung. Unversehens fand ich mich mit den Großen Europas an einem Tisch. Ich hatte meinen Platz links neben Stresemann, genau dem Premierminister MacDonald gegenüber, der mich manchmal, wenn er sich bequem auf seinem Präsidentenstuhl zurechtrückte und dabei die Beine weit von sich streckte, unter dem Tisch anstieß. Rechts von MacDonald saß der französische Ministerpräsident Herriot, auch heute noch als Präsident der französischen Kammer eine einflußreiche Persönlichkeit, ein großer, vierschrötiger Mann, mit einem fast eckig anmutenden Kopf, aus dem ein Paar gutmütige, forschende Augen gelegentlich einen mißtrauischen Blick auf meinen Nachbarn Stresemann fallen ließen; zur Linken MacDonalds saß der englische Schatzkanzler Philip Snowden. Er war vielleicht die markanteste Gestalt der ganzen Konferenz. Aus seinem hageren Gesicht blitzten ein Paar strenge, ja unerbittliche blaue Augen. Mit seiner Kritik machte er vor niemandem und nichts halt. Er war der Mann der unverblümten Wahrheiten. Von der Politik hielt er anscheinend nichts und von der Diplomatie noch weniger. Mit eiskalter Schärfe, ja vielfach mit einer in dieser Umgebung außergewöhnlichen Grobheit vertrat er seinen Standpunkt. Und meistens stand er dabei auf seiten der Deutschen gegen die Franzosen. Ich sollte Snowdens Art in den nächsten Tagen während der Konferenz und später auch bei anderen Gelegenheiten, wie der zweiten Reparationskonferenz 1929/30 im Haag, noch sehr genau kennenlernen. Rechts neben Herriot sah ich den belgischen Ministerpräsidenten Theunis.
Im Hintergrunde saßen die Berater der Alliierten; sie reichten ihren Ministern oft Zettel mit kurzen Bemerkungen oder Schriftstücke während der Beratungen zu, und man konnte daraus für den Gang der Verhandlungen manches entnehmen, wenn man wußte, wer die Herren in der zweiten Reihe waren und welches Gebiet sie als Sachverständige vertraten. Auch die deutsche Seite hatte ihre Sachberater mitgebracht, die ich hinter mir mit ihren Papieren rascheln und halblaute Bemerkungen austauschen hörte.
Von diesem unerwarteten Zusammentreffen mit den europäischen Staatsmännern war ich nicht so beeindruckt, wie ich es eigentlich erwartet hatte. Ich war beinahe überrascht, wie selbstverständlich mir nach einigen Minuten meine Umgebung erschien.
Das lag nicht zuletzt an der wenig formellen Atmosphäre, die diese Beratungen kennzeichnete. Ich hatte mir früher immer Verhandlungen zwischen Ministerpräsidenten und Außenministern als eine sehr steife Angelegenheit vorgestellt. Hier aber sprachen die Vertreter der einzelnen Nationen so ruhig und im Gesprächston miteinander, als handele es sich nicht um eine hochpolitische internationale Konferenz, sondern vielmehr um eine Clubversammlung. Wenn man von der Sprache absah, hätte man keinen Unterschied zwischen den deutschen und den anderen Mitgliedern dieses „Clubs“ feststellen können. Das traf jedoch nur auf die äußere Form zu. Inhaltlich merkte man sehr bald, daß das Land, welches Marx und Stresemann vertraten, in dem nur wenige Jahre zurückliegenden Kriege besiegt worden war, und daß die anderen als Fordernde am Tisch saßen.
Ich kam infolge der plötzlichen Ablösung von Michaelis mitten in eine Debatte hinein, die bereits vorher begonnen hatte. Es handelte sich bezeichnenderweise um die Frage der Sanktionen. Das war ein äußerst wichtiger Punkt, denn mit der Begründung, Sanktionen wegen Nichterfüllung von Reparationsverpflichtungen verhängen zu müssen, war ja Poincaré in das Ruhrgebiet einmarschiert. Nun sollte beraten werden, in welcher Weise Sanktionen bei einer Verletzung des Dawes-Planes durchgeführt werden könnten. Ruhig und sachlich hatte Marx die deutschen Einwendungen gegen das erneut auf Grund des Versailler Vertrages in Aussicht genommene Sanktionsrecht vorgebracht. Snowden trat der deutschen Auffassung bei, aber Herriot machte sofort Vorbehalte. Während der Ausführungen von Marx hatte er sich wiederholt an seinen Finanzminister Clémentel und an einen Beamten des Quai d’Orsay, den heutigen französischen Botschafter in London, Massigli, gewandt.
In dem der Konferenz vorliegenden Entwurf über die Sanktionsbestimmungen war vorgesehen, daß im Falle eines „flagrant default“, d. h. einer offensichtlichen Verfehlung Deutschlands, der Sanktionsfall eintreten sollte. Angesichts der Tatsache, daß Poincaré wegen sehr geringfügiger „Verfehlungen“ Deutschlands die Ruhraktion unternommen hatte, war es natürlich der deutschen Seite darum zu tun, von vornherein die Bestimmungen auszuschalten, wonach in Zukunft geringfügige Vorfälle zum Anlaß eines gewichtigen Vorgehens unter dem Vorwand von Sanktionen ergriffen würden.
Daher wurde stundenlang über die Auslegung dieses englischen Ausdruckes hin- und herdebattiert. Snowden ergriff wiederholt das Wort und stellte sich dabei auf den deutschen Standpunkt, indem er nachdrücklich zum Ausdruck brachte, daß im Englischen dieser Ausdruck unter allen Umständen den bestimmten Willen zum Begehen einer Verfehlung bedeute, daß daher eine böswillige Absicht vorliegen müsse. Das war genau der Standpunkt der deutschen Delegation. Wäre Anfang 1923 dem Sanktionsparagraphen eine solche Auslegung gegeben worden, so hätte die Ruhrbesetzung nicht stattfinden können.
An und für sich war diese ganze Diskussion natürlich im Rahmen der größeren Probleme, um die es sich in London handelte, verhältnismäßig belanglos. Mir zeigte sie jedoch, besonders nach dem Zwischenfall Michaelis, welche weittragenden Folgen einzelne Formulierungen im internationalen Verkehr oft haben können, und ich habe mich in der Folge bei meinen Übersetzungen immer an diese ersten Beispiele aus meiner Laufbahn erinnert.
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