Sie stellte den Wasserkocher an und drehte mir den Rücken zu.
»Gonzo hat eine Nachricht hinterlassen. Er kommt Weihnachten nach Hause.«
Das sagte sie ganz ruhig, als würde Gonzo jede Woche mal anrufen, und klang überhaupt nicht aufgeregt oder angewidert dabei, obwohl wir seit vier Jahren nichts mehr von ihm gehört hatten.
»Hat er gesagt, welche Weihnachten?«
Sie drehte sich um und zog den Bademantel enger. Ihr Gesicht war blass, ihre Augen so groß und dunkel wie die eines Pandabären.
»Er ist dein Bruder, Harry.«
»Dafür kann ich doch nichts, Dee. Das kann mir echt keiner anhängen.«
Sie schüttelte den Kopf, als wäre sie enttäuscht, weil ihr nichts dazu einfiel.
»Du gehst jetzt besser.«
Sie schob mich durch den Flur und blieb fröstelnd in der Tür stehen, mit verschränkten Armen und ohne mich anzusehen. Ich blieb zwei Stufen weiter unten stehen, um den Moment hinauszuzögern, in dem ich zugeben musste, dass ich das Auto in der Stadt stehen gelassen hatte.
»Ben sollte sich langsam mal anziehen. Sonst kommt er noch zu spät zur Schule.«
»Jetzt sind Ferien, Harry. Kinder kriegen Weihnachtsferien. Das ist anders als bei den Erwachsenen, die kriegen einen Scheiß. Wir haben übrigens bald Weihnachten.«
»Ich weiß, dass wir bald Weihnachten haben, verdammt.« Ich trat mit dem Fuß gegen die Treppenstufe. Ich hatte einen üblen Kater, das Dope half da auch nicht weiter. Der Wind wehte mir den nassen Schnee ins Gesicht. Sie schob sich eine Strähne hinters Ohr und sagte: »Harry …«
»Was?«
»Denk bloß nicht, dass das, was passiert ist …«
»Bild dir bloß nichts ein!«
»Ganz bestimmt nicht«, gab sie bissig zurück. »Nicht nach dem, was du mir letzte Nacht gesagt hast.«
Ich suchte nach einer rettenden Entgegnung, aber sie schloss bereits die Tür, schlug sie immerhin nicht zu. Ich wandte mich dem Schneeregen zu und entschied, mich im Büro zu rasieren. Als ich das Päckchen mit dem Tabak rausholte, stellte ich fest, dass mir die Blättchen ausgegangen waren. Was für eine Woche, dabei war es gerade mal Montag Morgen um halb zehn.
Die Einwohnerzahl wurde auf ungefähr neunzigtausend geschätzt, und selbst wenn man die Sinn-Féin-Aktivisten, die doppelt zur Wahl gingen, abzog, war es immer noch eine ganz ansehnliche Stadt. Und genau darum ging es ihnen ja: Sie suchten sich eine kleine verträumte Stadt aus, in der es keine großen Probleme gab, und rissen ihr die Gedärme aus dem Leib. Siedelten die Bewohner um, pferchten sie in Vorstadtsiedlungen aus Fertigbausteinen, die sich auf beiden Seiten des Flusses ausdehnten, südlich vom See und ein Stück weit in die Berge. Sie hätten sogar die Bucht zugeschüttet, wenn sie die Leute für blöd genug gehalten hätten, sich am feuchten Sand zwischen den Zehen zu erfreuen. Sie zogen eine neue Innenstadt hoch, einen Hochhaus-Dschungel für Kreditunternehmen, internationale Callcenter, mehrstöckige Shopping Malls und Software-Entwicklungsunternehmen, die sich als Universitäten tarnten. Das meiste davon war von amerikanischen Unternehmen finanziert worden, die das Geld mit Hilfe einheimischer Subventionen, Niedrigzinskrediten und zurückgeführten Auslandsgewinnen aufgebracht hatten. Die Innenstadt bestand jetzt aus breiten Straßen, von Bäumen gesäumt, und sah aus wie der manifestierte feuchte Traum eines Norman Rockwell, einfach über der Atlantikküste abgeworfen. Es hatte ungefähr fünf Jahre gedauert, bis alles fertig war, und keiner hatte gelacht, nicht ein einziges Mal.
Mein Büro befand sich auf der Nordseite des Flusses im Old Quarter, wo die Innenstadt in die Hafengegend überging, die sich Richtung Westen erstreckte. Das Viertel bestand aus fünf oder sechs belebten Straßenzügen, durchzogen von Eisenbahntrassen, Straßen voller Schlaglöcher und kleinen Gassen, die allesamt zum Hafen führten. Die Gegend war zu laut für eine Wohngegend, und die Laufkundschaft war zu sporadisch, um ein Einkaufszentrum am Leben zu erhalten, also durfte das Old Quarter seine bröckelnden Fassaden, seinen rissigen Asphalt und seine marode Kanalisation behalten.
Das Old Quarter zog eine recht gemischte Bevölkerung an. Crusties lachten über Kids auf Skateboards, die kichernd an ihnen vorbeiflitzten. Trinker, Penner und Straßenmusiker bettelten Passanten um ihr knappes Kleingeld an. Studenten mischten sich unter Tunten, Taugenichtse und Kleinganoven und fanden das total aufregend.
Ich schlief schon seit ein paar Monaten auf dem Sofa im Hinterzimmer meines Büros, hatte mich daran gewöhnt und sah den Verlierern draußen auf der Straße schon ziemlich ähnlich. Die meisten davon mochte ich und fand ihren Mangel an Ehrgeiz und Zurückhaltung in Ordnung. Die Leute hier im Viertel waren auf ein Pfandhaus in ihrer Nähe angewiesen, sie brauchten einen Laden mit Army-Klamotten und ein Tattoostudio. Die Kneipen hatten getönte Scheiben, die Sexshops nicht, und die Imbisscafés sollten vielleicht mal darüber nachdenken. Es gab Antiquitätenläden und sogar ein Geschäft für biologische Lebensmittel aus Thailand und eindeutig zu viele antiquarische Buchhandlungen. In der zweiten Reihe, näher am Flussufer, gab es ein paar Autowerkstätten, die die Dinge schwarz und geschmiert am Laufen zu halten wussten. In den Bars wurden Jazz, Folk und Drum’n’Bass gespielt, und im Sommer hing der schwere Duft von Patschuli und geschmolzenem Teer in der Luft. Nachts genügte es, mit heruntergelassenem Fenster durch die Gegend zu fahren, um sich zu bedröhnen.
Das Quarter war ein angenehmer Ort zum Leben und zum Arbeiten, wenn man eine blinde Freundin hatte und die Klienten noch verzweifelter waren als man selbst. Denise war nicht blind, aber das war nur ein Teil des Problems. Zwischen mir und ihr gab es so einige Schwierigkeiten. Was mich betraf, so hatte ich eigentlich nur ein Problem, aber Denise ließ mich an ihren Sorgen gerne teilhaben.
Ich kam gegen zehn im Büro an, ohne irgendwelche Rekorde gebrochen zu haben. Ich griff nach dem Telefon, um im Erdgeschoss einen Becher Kaffee zu bestellen. Herbie war auf dem Anrufbeantworter. Er klang ungewöhnlich munter für diese Tageszeit, eigentlich war er immer entweder stoned oder er schlief. Mindestens einmal pro Tag kiffte er sich in einen regelrechten Vollrausch.
»Harry … Harry? Scheiße … Harry, schaff deinen Arsch zu Tony Sheridan. Das Haus am See hinter der Rennbahn. Seine Frau hat’s erwischt, Kehle aufgeschlitzt. Die Bullen versuchen, das mit dem Koks unter Verschluss zu halten. Sieht super aus, hab die Fotos im Kasten. Ruf mich an, wenn ich dir den Weg beschreiben soll.«
Das war nicht nötig. Jeder wusste, wo Tony Sheridan wohnte, außer Tony selbst vielleicht, zumindest in jenen Nächten, in denen er glaubte, er würde bei der Brünetten leben, die das Bojangles betrieb. Das war ein Puff mit ganz jungen Hühnern nahe am Fluss, allerdings nicht nah genug, um bei einer Überschwemmung mal ordentlich durchgespült zu werden.
Ich steckte Diktafon und Notizblock ein und überlegte kurz. Schüttelte den Kopf. Dachte noch mal darüber nach – Gonzo war nach Hause gekommen und ein blutiges Verbrechen war geschehen, beides an einem Vormittag. Das konnte Zufall sein oder auch nicht. Ich schloss die untere Schublade des Aktenschranks auf, schob den Unterboden beiseite, zog den .38er mit dem kurzen Lauf heraus und schob sie am Rücken in meinen Gürtel.
Ich nahm die Abkürzung durch die Passage gegenüber vom Coffee Shop, überquerte die Fußgängerbrücke und erreichte den Parkplatz. Verschwendete fünf Minuten damit, zu überlegen, wo ich den Wagen gelassen hatte. Dann ging ich über die Brücke zurück und lief am Ufer entlang zum Taxistand.
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