„Schau, sie läuft immer noch herum“, sagte Tama und zeigte auf die Schildkröte, die mit ihren stampfenden Schritten magische Muster in den Boden trat. „Haben diese Muster überhaupt eine Bedeutung? Gestern war es ein Pentagramm, heute ist es eine Girlande.“
Aureon zuckte mit den Achseln. „Frag Altwi, oder noch besser ist es, du fragst du Neven. Keiner in der Familie kennt die Schildkröte besser als sie.“
Ein tiefes Rumpeln ließ sie aufschrecken. Doch als diesem Geräusch nichts weiter folgte, kehrten Tamas Gedanken wieder zu der Schildkröte zurück. Wie am gestrigen Abend sprach das Tier zu ihr, und wie am gestrigen Abend ergaben die Sätze nur wenig Sinn. Manchmal bin ich bei dir , hörte sie und: Was beschäftigt dich? Ganz ernst wie ein ausgesprochenes Urteil dann der nächste Satz: Du brauchst mehr Kraft. Und beinahe eine Verheißung war: Warte auf mich, ich komme zu dir. Es waren wechselnde Stimmen mit unterschiedlichen Klangfarben. So als ob die Schildkröte nur ein Gefäß für etwas anderes wäre. Tama war sich noch nicht einmal sicher, dass diese Gedanken für sie allein oder überhaupt für sie bestimmt waren.
Wer bist du, dessen Stimme ich in mir höre? Oder bist du es selbst? Sie richtete ihre Gedanken auf die Schildkröte.
Bald bin ich wieder bei dir. Habe Geduld.
Tama hatte keine Geduld. Nicht an einem Morgen wie heute. Nicht nach einer solchen Nacht. Da half auch Aureons Lächeln nicht, der ihr schweigend zusah.
Die Erde schüttelte sich, kurz nur, doch es reichte, um das Gleichgewicht zu verlieren, Holz ächzte, Balken bogen sich. Glas zersprang. Irgendwo rieselte Mörtelstaub auf die Erde. Dann war wieder alles ruhig. Altwi schrie von irgendwo her: „Raus aus dem Haus!“
Jetzt standen sie auf der Straße. Die Natur war beängstigend still, wenn man einmal von den erregten Stimmen der Menschen und Komposits absah. „Noch nie so nah gewesen …“, verstand Tama.
„Lasst sie reden. Das beruhigt“, sagte Altwi. „Wir warten den nächsten Stoß noch ab. Dann gehen wir wieder hinein.“
„Woher willst du wissen, dass es nur noch einen weiteren Stoß gibt“, wollte Tama wissen, die ihren Vorsatz, mit Altwi kein Wort mehr zu sprechen, im Angesicht einer größeren Gefahr schnell wieder vergessen hatte.
„Es sind immer zwei Stöße“, sagte Altwi, was, wie jeder wusste, völliger Unsinn war. Aber nun war nicht die Zeit, über so etwas zu streiten. Dann erbebte die Erde ein zweites Mal. Schwächer, aber dafür länger.
„So, das war’s. Und jetzt wieder rein. Ich hasse es, wenn man nicht richtig stehen kann“, schimpfte Altwi. Dann schickte sie ihre Kinder durch das Haus. „Schaut nach, ob etwas zerstört wurde.“ Ruhig und gelassen nahm sie alles hin.
Tama schlug das Herz noch immer hoch oben im Hals. „Was war das?“, fragte sie mit einem Zittern in der Stimme.
„Unsere Welt ist wütend und verzweifelt wegen ihrer eigenen Machtlosigkeit. Irgendwann werden die Beben so stark sein, dass nichts mehr stehen bleibt. Aber noch ist es nicht so weit. Jedenfalls hoffen wir das alle. Sicher dürfte sich allerdings niemand mehr sein. Es ist mehr Hoffnung als Wissen.“
Tama verstand nicht, warum Altwi nicht mehr sagen konnte. Aber wenn ihre Mutter nicht wollte, dass sie verstanden wurde, dann war das eben so. Schließlich ging nichts von dem, was im Elfenviertel passierte, Tama wirklich etwas an. Die Familie hatte sie sprechen wollen, sie hatten sich gesprochen, und das war es. Altwi war ihre leibliche Mutter, und es war gut zu wissen, dass es sie gab und wie sie aussah. Ein leerer Fleck ihrer Erinnerung war nun ausgefüllt, hatte Umrisse und Farbe bekommen. Dass ihre Mutter offensichtlich nichts von ihr wissen wollte, war zwar nicht schön, aber auch nicht zu ändern. So einfach war das. Sie würde so tun, als mache ihr das nichts aus. Ganz kühl würde sie reagieren. Mindestens genauso kühl wie ihre Mutter.
Dass ihr bei diesen Gedanken eine Träne die Wange hinunterlief, bemerkte Tama nicht und die anderen auch nicht. Die waren mittlerweile zurückgekommen und sammelten jetzt gemeinsam Scherben auf. Baerben hatte einen Besen mitgebracht und fegte den Staub zusammen. Das waren keine Tätigkeiten, bei denen man den Kopf hoch hielt.
Als Tama ankündigte, dass sie nun gehen wolle, und sich für die Gastfreundschaft bedankte, ging ein Ruck der Überraschung durch die Gruppe. Aureon protestierte halbherzig, bat sie zu bleiben. Ihre Stiefgeschwister redeten auf sie ein, aber für Tama waren das alles leere Worte. Argenton schüttelte mit Bedauern im Blick den Kopf und Paluda starrte mit großen Augen ins Leere.
„Du bist sicher, dass du nicht noch etwas bleiben will?“, fragte Altwi.
„Ja, ich bin sicher. Ich weiß jetzt, dass du meine leibliche Mutter bist. Um das zu erfahren, bin ich gekommen. Mutterliebe habe ich nicht erwartet, Hass oder Abscheu auch nicht. Und habe keine Sorge, ich werde dir nicht zur Last fallen. Wo ich nicht willkommen bin, werde ich mich auch nicht aufdrängen.“
„Rede nicht über etwas, wovon du nichts verstehst. Schon gar nicht über Liebe oder Hass. Liebe hast du bisher nicht viel kennengelernt. Das ist bedauerlich. Wirklichen Hass aber auch nicht, und dafür solltest du die Götter preisen.“
„Die Frau, die mich aufgezogen hat, hat mich geliebt!“
„Sie hat dich umsorgt. Das ist etwas völlig anderes als Liebe. Und was du für Gefühle gehalten hast, war Magie. Die Wesen, die dich lieben, übersiehst du, die Wesen, die dich hassen, weil sie dich fürchten, übersiehst du ebenfalls. Also erzähl mir nichts von Liebe und Hass. Und schon gar nichts von Abscheu.“
Altwi schwieg abrupt und presste für einen Moment ihre Lippen so hart zusammen, dass von ihrem Mund außer einem geraden Strich nichts mehr zu erkennen war. „Ich weiß nicht, wer dir gesagt hat, dass ich deine Mutter bin, Tamalone. Von mir hast du das nicht gehört. Aber es stimmt. Ich bin deine Mutter. Ich wusste es von dem Augenblick an, als du aus dem Dunkel in das Licht des Elfenviertels tratest. Was nicht stimmt, ist, dass du nicht willkommen bist. Deshalb sage ich es dir ganz deutlich jetzt und vor allen Anwesenden, damit du es auch wirklich verstehst. Komme so oft, wie du möchtest. Komme immer, wenn du eine Frage hast, wenn du Hilfe brauchst, wenn du nicht weiter weißt oder wenn du einfach das Bedürfnis nach etwas Gesellschaft hast. Du kannst immer kommen. Und auch wenn du es mir nicht glaubst, du bist mir immer willkommen.
Ich habe nur einen einzigen Vorbehalt, für dessen Gründe ich dir noch nichts sagen kann. Du solltest niemals lange bleiben. Mit dieser Einschränkung wirst du leben müssen, und du wirst dafür auch keine Erklärung von mir bekommen. Auch wirst du ertragen müssen, dass ich dich nicht in den Arm nehme und lieber den Abstand zu dir suche. Irgendwann wirst du die Gründe für dieses Verhalten erfahren. Für fast alles gibt es Gründe. Überall, wohin man sieht, gibt es Ursachen und Auswirkungen. Noch nicht einmal das kurze Schütteln einer verzweifelten Erde geschieht ohne Grund. Und nun geh, wenn du gehen möchtest. Aureon und Argenton werden dich in das Viertel des Handwerks zurückbringen.“
„Ich glaube dir kein Wort, Altwi, und gehen kann ich allein. Ich brauche keine zwei jungen Männer, die mich heimbegleiten.“
„Solange du hier bei mir bist, wirst du tun, was ich sage. Jeder tut hier, was ich sage. Auch du. Es ist also nicht persönlich gegen dich gerichtet. Aureon und Argenton werden dich ins dunkle Viertel und dann durch das dunkle Viertel hindurch begleiten. Sie werden dich erst wieder im Viertel der Gestaltwandler verlassen. Wo das sein wird, kannst du gern selbst entscheiden. Und wenn du doch einmal an uns denken solltest, vergiss Paluda nicht. Sie gehört auch zu unserer Familie, ebenso wie Pola-Polon, dem du noch nicht begegnet bist. Und jetzt weg mit euch dreien.“
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