Was war denn vorgefallen? Worum ging es überhaupt?
»Du weißt das noch nicht? Die Auren sind verschwunden. – Für mich ist die Welt einfach wieder in Ordnung. Aber die Medien wollen aus berufenem Munde …« Devin hielt inne, räusperte sich, fuhr mit gedämpfter Stimme fort. »Die Leute hängen dir an den Lippen, Basti … Mancher gäbe viel für so eine Möglichkeit, etwas zu bewirken.« Klang da etwa Neid mit?
Sebastian schloß die Augen: Keine Auren mehr. Experiment beendet. Er hatte doch gestern nacht die KI beschimpft, oder? Und jetzt reagierte sie auf seine Tirade. Ach, Unsinn. Was malte er sich da aus. – Die Menschen würden wie ehedem ihren Geschäften nachgehen. Als wäre nichts geschehen. Aber nichts war mehr, wie es vorher war.
Er stöhnte, griff nach Devins Bürorasierer, ging in den Flur vor den Spiegel. Und während er in sein eigenes stoppliges Antlitz schaute, glaubte er für einen Augenblick, einen ganz gewöhnlichen, unintelligenten Spiegel vor sich zu haben, jedenfalls hätte der genau dieses – auralose! – Gesicht gezeigt … Er riß sich zusammen, überlegte: Was sollte er den Zuschauern sagen? »Wenn ihr glaubt, daß es jetzt vorüber ist, Leute, dann irrt ihr euch gewaltig. Jenes Wesen im Netz, von dem wir keinen Begriff haben, weiß nun, was für bornierte, selbstbezogene Gestalten wir sind – und welche Macht es über uns ausüben kann. Wir stehen nackt vor ihm da … – Was ihr tun könnt? Fahrt meinetwegen aufs platte Land oder versteckt euch in den Bergen. Das macht keinen Unterschied. Ich sage euch: Wir befinden uns in einer neuen Welt, in einer Welt, in der wir der Gnade selbsterschaffener Götter ausgeliefert sind.«
Aber dann, vor laufender Kamera, sprach er nur von einer merkwürdigen temporären Software-Anomalie. Dergleichen könne in einer hochgradig vernetzten Welt schon einmal passieren … Doch der »Ankermann« von Kanal III ließ sich so leicht nicht abbügeln. »Nun mal Klartext, Herr Gruber. Sie gelten als das inoffizielle Sprachrohr der Aura-Intelligenz. – Nach Schätzungen haben Sie weltweit etwa zweieinhalb Millionen Follower – oder soll ich sagen: eine millionenköpfige Gemeinde? Welche Botschaft haben Sie für Ihre Gläubigen?«
Millionen, die auf mich hören, schoß es ihm durch den Kopf. Wenn nicht gar eine Netzintelligenz, die meine Wünsche erfüllt … Was soll ich sagen? Was will ich bewirken?
»Momentan«, begann er tastend, »zum gegenwärtigen Zeitpunkt … bin ich nicht bevollmächtigt …«
Bertram C.
Bertram C. wurde am 18. Juli 1903 bei Berlin geboren. Von seinem Leben ist nichts zu berichten, was mit dem Tod in Zusammenhang stünde.
Im Alter von 68 Jahren begann Bertram C. wie so manche unter dem Wetter zu leiden. Zuerst peinigte ihn nur das Rheuma, er schwor auf Heizkissen und Heizdecken, blieb stundenlang sitzen, was seine Frau als Faulheit deutete. Auch als er aus den Schmerzen das Herannahen von Schlechtwetter vorhersagen konnte, entschuldigte sie seine Unlust nicht, ihr bei den kleinen Geschäften des Haushalts zur Hand zu gehen. Ein Jahr später gesellte sich die Gicht dazu, Schmerzmittel verloren ihre Wirkung, seine Frau reagierte kaum noch auf sein Jammern. Bald fürchtete ihn seine Verwandtschaft wegen des unablässigen Klagens, das jede Familienfeier störte. Die Enkel mieden sein Haus. Es wurde einsam um Bertram C.
Bertram C. verlebte seine letzten Jahre im Lehnstuhl, den er nur selten verließ, sei es, um einem natürlichen Bedürfnis nachzukommen, sei es, um sich ein Getränk zu holen oder wenn er von seiner Frau zu Tisch gebeten wurde. Stundenlang saß er da und fühlte das Wetter. Kommender Regen kündigte sich im rechten Bein an. Gewitter plagten die Wirbelsäule, entfernte Zyklone verkrümmten ihm die Finger. Wie durch ein geheimes Gespinst feiner stacheltragender Fäden waren die Organe seines Körpers mit künftigen Ereignissen in der Erdatmosphäre verbunden.
Das Alter gönnte Bertram C. die Ruhepause des Schönwetters nicht. Als er zum ersten Male das feine Stechen hinter seiner Stirn verspürte, ahnte er nicht, daß die morgige Hitze ihn quälte. Verzweiflung ergriff ihn erst, als sein Körper so sensibel wurde, daß jede kleinste Veränderung, selbst das Gleichbleiben des Wetters, einen speziellen Schmerz hervorrief. Er stöhnte unter der Folter der Tiefausläufer, die ihm heiß in der Brust brannten, Schönwetterfronten umklammerten sein Genick mit eiserner Hand, polare Luftmassen drohten ihm die Kniescheiben zu zermalmen. Festgebannt im Lehnstuhl, das Fernsehbild oder den herbstlichen Fall der Blätter beobachtend, ächzte Bertram C. mit jedem Wind, der am folgenden Tag wehen würde. Er litt mit den Blumen unter der kommenden Trockenheit, mit den Insekten unter drohender Nässe, mit den Vögeln unter der Kälte in der nächsten Woche. Bertram C. litt, bis er sich in seine Wetterhölle eingewöhnt hatte.
Mit der Zeit lernte er, seine Leiden zu deuten, sie mit den Wetterkarten des Fernsehens in Einklang zu bringen. Es erleichterte ihn zu wissen, daß die Nierenschmerzen nichts als ein skandinavisches Tief bedeuteten, das Brummen im Kopf die erwärmte Festlandsluft. Nach der Art der Peinigung konnte er vorhersagen, wie hoch am nächsten Tag der Luftdruck steigen, welche Winde wehen würden und ob man einen Schirm bei sich tragen mußte.
Es sprach sich herum. Bertram C. wurde nützlich für seine Nachbarn: Das Fernsehen mochte sich irren, er prophezeite stets, was wirklich eintrat. Wer einen Balkon oder einen Garten hatte, wußte das zu schätzen. Alte, längst vergessene Freunde meldeten sich, um Bertram C. als ein Naturwunder zu bestaunen und um ihn nach Ratschlägen für den nächsten Urlaub zu fragen. Einige versuchten sogar, ihn zu beschwatzen, welches Wetter er für sie erfühlen solle. Doch Bertram C. hatte keinen Einfluß auf den Gang der Dinge. Seine Frau aber begann die lästigen Besucher abzuwimmeln, es sei denn, sie brachten eine Kleinigkeit als Geschenk mit. Seine ehemaligen Stammtischgenossen debattierten über seinen Großvater, der Schafe gehütet hatte, über Wetterstrahlen und Horoskope.
Bertram C.s merkwürdige Fähigkeit erreichte eine Stufe, die es ihm erlaubte, nicht nur genau zu wissen, wann in den nächsten fünf Tagen in Berlin der Regen fallen oder wo über Sachsen die Sonne scheinen würde. Er konnte Kumuluswolken bis nach Schottland verfolgen und Gewitter bis hinter den Ural. Einen Tag, bevor man in Südfrankreich Hagelraketen in drohenden Wolken explodieren ließ, erfaßte ein wilder Tremor seine Wadenmuskeln. Sein Körper verwandelte sich in eine stechende und brennende und reißende Europakarte.
Keiner der Ärzte, bei denen Bertram C. auf Betreiben seiner Frau vorstellig wurde, nahm sein sonderbares Leiden wirklich ernst. Die einen vermuteten in ihm einen Hypochonder, die anderen spielten mit dem Gedanken, ihn zum Psychologen weiterzuschicken. Keiner nahm sich die Zeit, ihn lange genug zu beobachten, um sich von der Existenz seiner spezifischen Begabung zu überzeugen. Und: War nicht Wetterfühligkeit schon halb Aberglaube?
Am 16. Oktober 1984 mittags 12:30 Uhr stellte Bertram C. mit wachsender Unruhe fest, daß mit seinem Körper etwas Ungewöhnliches vorging. Erregt sprang er aus dem Lehnstuhl. Vor sich hin starrend begriff er, daß der Schmerz verschwunden war! Kein Organ quälte ihn mehr mit Temperaturverläufen oder Luftdruckwerten; Fronten, Tiefdruckgebiete und Hochdruckgebiete, Niederschläge, Morgennebel – alles war verschwunden!
Bertram C.’s Hochgefühl währte bis gegen Abend. Mit der Dämmerung stellten sich düstere Gedanken ein, die um die unerfüllte Erwartung neuer Pein kreisten. Die Freiheit von Tortur hatte ihn gleich einer großen Leere ergriffen. Bertram C. wünschte sich seine Schmerzen zurück, sie hatten ihm die Sicherheit gegeben, daß alles in Ordnung war in Europa und mit seinem Körper. Daß noch alles da war.
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