Wie sie sagen: »Ich muss mich mal kurz entschuldigen.«
Wie sie reden, wenn sie betrunken sind. Wie sie reden, wenn sie nicht betrunken sind. Ihre traurigen Lieder. Ich mag sie. Sogar in Internetforen. Sogar im Flixbus bei Nacht.
Ich mochte meine Lehrer. Immer. Alle. Sogar meine Sportlehrer. Das ist doch nicht normal. Stets versuchte ich, sie nicht zu mögen, aber sobald mir einer von ihnen Hilfestellung am Doppelreck gab, dachte ich: Hey, er gibt mir Hilfestellung, das ist aber nett.
Ich mochte alle meine Vermieter. Und die Frauen der Vermieter, auch wenn die meist gerade mit irgendeinem jüngeren Handwerker durchgebrannt waren. Und die Makler. Himmel, den Makler nicht auch noch, dachte ich jedes Mal. Aber immer wenn mich einer von ihnen ansah mit seinen eitertriefenden Axtmörderaugen, von Apfelkorn und einsamen Wichsnächten gezeichnet, schloss ich ihn in mein Herz.
»Die Wohnung kostet siebenhundert kalt. Staffelmiete nach Paragraf 557a«, sagte sein Mund.
»Niemand wird später mein Grab besuchen«, entgegneten seine Augen. Ich unterschrieb den Mietvertrag und gab noch etwas Trinkgeld.
Ich mag alle. Selbst meine Eltern. Nie habe ich sie gehasst.
»Jetzt hass doch mal deine Eltern«, nölten meine Schulkameraden immer, wenn wir uns dreckige Elternschwänke im versifften Oberstufenkeller erzählten (es waren so etwas wie frühe Poetry Slams).
»Jetzt hass uns doch mal«, ermutigte mich mein Vater, studierter Psychotherapeut, der wollte, dass ich mich endlich mal »abnabelte«.
Ich mag meine Kinder, alle beide, auch im Dämmerlicht morgens um fünf, wenn sie mir mit den kleinen Fäusten auf die Stirn hämmern. Ich mag, wie arglos sie dabei gucken. Ich mag ihre übergroßen Kinderköpfe, und die Lehrer und Ärzte und geldgeilen Kieferorthopäden meiner Kinder mag ich auch.
Was soll ich machen. Ich mag Rüstungsindustrielle. Ich mag Kohlekraftwerksbetreiber, Insolvenzverwalter, ich mag Hütchenspieler, Fußballfans, Österreicher und sogar Markus Lanz. Ich mag Lateinlehrerinnen und meinen Zahnarzt aus Kindertagen, der stets ohne Betäubung bohrte. Irgendwas hat sich der Mann dabei gedacht.
Gerne würde ich die Menschen ein bisschen weniger mögen. Dann wären meine Texte lustiger. Zum Beispiel dieser. So lustig!
Gerne schriebe ich zum Beispiel eine freche Polemik über Christian Lindner. Wie gern würde ich Lindner verbal massakrieren, so richtig runterputzen. Blödfisch, Holzkopf, Nervensäge! Aber dann stelle ich mir Christian Lindner als Schulbub vor, den kleinen Christian, zwischen seinen hilflosen Händen ein ungeplant steifes Glied. Wie er mit diesen Händen das Glied verzweifelt wieder nach unten drückt, in der Umkleidekabine, drei Minuten vor Beginn des Schulschwimmens; aber nichts da, plopp, schnellt es wieder nach oben, das gottverdammte Stehaufmännchen, auf das bereits die ersten Tränen tropfen, wie in seiner Autobiografie »Der lange Weg zur Freiheit« beschrieben, wenn ich das nicht irgendwie verwechsele. Da zerfließt mir das Herz.
Immer versuche ich, die Menschen ein bisschen weniger zu mögen. Wenigstens ein paar, wenigstens alleinerziehende Witwen und Bioladenbetreiber mit Lese-Rechtschreib-Schwäche, weil die eh schon jeder mag, weil die meine Sympathie gar nicht nötig haben. Wenigstens Schnaps-an-Kinder-Verkäufer, aber ich kenne keine Schnaps-an-Kinder-Verkäufer, auch wenn viele, zum Beispiel meine beiden Brüder, genau so aussehen.
Ich möchte nicht, dass andere von meiner Menschenliebe erfahren, zum Beispiel meine Arbeitskollegen in der Titanic-Redaktion.
»Hey Ella, wie findest du eigentlich Menschen?«
»Och pfff …«, wegwerfende Handbewegung, Lippen verächtlich verzogen. »Nicht so meins.«
Es heißt, wer Tiere liebt, hasst Menschen.
Und: Wer Menschen liebt, hasst Tiere.
Genau das ist mein Glück. Tiere mag ich nicht so gerne. Wenn ich die auch noch alle mögen würde, das Herz würde mir überlaufen. Tiere sind das Letzte. Wie die schon gucken. Vor allem Enten. Enten könnte ich alle erdrosseln. Je mehr Tiere ich kennenlerne, desto mehr liebe ich Menschen.
Meine Cousine Albertine hat ein Kind geboren. Mutter und ich betrachten das erste Beweisfoto auf dem Handy.
»Wie süß«, sage ich und bekomme glasige Augen.
»Das musst du nicht sagen«, sagt meine Mutter. »Wir sind hier unter uns.«
Sie betrachtet den Bildschirm: »Die roten Flecken, der verbeulte Kopf, ja, gibt’s dafür nicht Photoshop?«
Wir sitzen an Mutters Küchentisch, trinken Tee.
»Mama«, sage ich und rühre in meinem Glas. »Erinnerst du dich eigentlich noch an meine Geburt?«
»Nein«, sagt meine Mutter und schüttelt so energisch den Kopf, dass ihre Ohrgehänge klimpern.
Sie schaut aus dem Küchenfenster in den Nieselregen.
»Doch«, sagt meine Mutter. »Oh doch, doch, doch.«
Sie lehnt sich auf ihrem Küchenstuhl zurück. Ihre Augen sind auf einmal geweitet.
»Na dann. Erzähl doch mal«, stupse ich sie an.
»Nein«, sagt Mutter.
»Och komm, nur ein bisschen«, sage ich. »Das betrifft auch mich. Ich habe auch mitgemacht.«
»Du und mitgemacht?«, ereifert sich Mutter. »Das wüsste ich aber.«
Lange sitzt sie einfach so da, schaut in ihr Teeglas, als ob auf dessen Grund etwas Geheimnisvolles schwimmt.
»Na gut«, sagt Mutter. »Ja, ich erinnere mich.«
Sie senkt die Stimme.
»Es ist November, es ist Nacht. Durchs Fenster schimmert der Vollmond. Ich liege so da. In diesem blütenweißen Kreißbett. Mit vollem Bauch. Darin steckst nämlich nicht nur du, sondern auch ein komplettes Käsefondue. Appenzeller, junger Gruyère, ich weiß es noch wie heute. Wir hatten am Abend bei den Nachbarn gefeiert, es war zwei Wochen vor dem Termin. Ja, hätte ich denn ahnen können, dass du schon kommst? Sonst warst du ja immer eher fürs Trödeln, Stichwort Uniabschluss. Bei Gott, dieses Käsefondue war wirklich eine Wucht. – Wo war ich noch mal? Ach ja. Die ersten sachten Wehen sind bereits verebbt, keine große Sache. Zwei Hebammen sitzen gelangweilt in der Ecke, spielen Bridge. Der Arzt ist eine rauchen. Wir warten. Und warten und warten, während ich darüber brüte, was schlimmer ist: das Warten oder dieser schlecht geschnittene Gebärkittel, den ich tragen muss. Ab und an linse ich quer durch den Kreißsaal zum anderen Kreißbett, zu dieser dauergrinsenden Rotblonden. Mehrfachbelegung, das war ja damals so, aber da tut sich auch nichts. Nach Mitternacht warten wir immer noch, hier und da eine mickrige Wehe, mehr nicht. Dann flößt mir eine der Hebammen ein Mittelchen ein. So einen süßlich schmeckenden, wehenfördernden Saft. Und dann kommt es raus.«
»Du meinst, ich?«, frage ich.
»Nein, das Käsefondue natürlich«, sagt Mutter. »Was habe ich gereihert. Quer über das ganze Kreißbett. Die Hebamme flucht, will gerade meinen Kittel abwischen, da kommt sie auch schon. Die erste starke Wehe. Die erste Austreibungswehe, die diesen Namen verdient hat. Hoppala. Das war ein Schmerz, wie soll ich das beschreiben …? Ich könnte mir vorstellen, eine solid gezimmerte Streckbank in einer mittelalterlichen Folterkammer hat denselben Effekt. Doch ehe ich darüber nachdenken kann, kommt auch schon die zweite. Bam bam bam bam bam …«
»Klingt wie Krieg«, sage ich.
»Es ist Krieg«, sagt meine Mutter. »Bei Gott, es ist, als ob du schwer verletzt versuchst, den rettenden Hubschrauber zu erreichen, verfolgt von einem Dutzend Vietcongs. Hast du Platoon gesehen?«
»Mama, du hast Platoon gesehen?«
»Natürlich«, sagt Mutter, »zur Traumabewältigung. Und natürlich gebe ich nicht auf. Ich halte mit allem, was ich habe, dagegen. Da liege ich. Auge in Auge mit dem Russen. Also dem russischstämmigen Arzt, der mittlerweile doch mal eingetrudelt ist und kalt lächelnd am Fuße des Bettes steht. Dr. Karkarow hieß der, hätte aber auch Dr. Guckindieluftkow heißen können oder Meinefingerstinkennachrauchkow, dieser Kurpfuscher.«
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