Die Mystikerin Simone Weil schrieb an einen Freund auf einem anderen Kontinent: »Lieben wir diese ganz aus Freundschaft zusammengesponnene Ferne, die, die sich nicht lieben, werden nicht getrennt.« Für Weil ist die Liebe die Atmosphäre, die die Distanz zwischen ihr und ihrem Freund füllt und färbt. Selbst wenn dieser Freund dann auf der Türschwelle steht, bleibt etwas an ihm unsagbar fern: Tritt man vor, um ihn zu umarmen, so schlingen sich die Arme um ein Mysterium, um das Unbekannte, das Nicht-Kennbare, um das, was sich nicht besitzen lässt. Die Ferne sickert selbst in das Allernächste. Schließlich kennen wir ja kaum unsere eigenen Tiefen.
Im 15. Jahrhundert begannen europäische Maler, das Blau der Ferne zu malen. Frühere Künstler hatten sich in ihren Werken für das, was weit entfernt war, nicht übermäßig interessiert. Manchmal waren die Heiligen und Patrone auf Goldgrund gemalt, manchmal wölbte sich der Raum, als sei die Erde tatsächlich eine Kugel, der Mensch allerdings in ihrem Inneren. Jetzt legten Maler mehr Wert auf Naturtreue, auf eine Darstellung der Welt so, wie sie sich dem menschlichen Auge präsentierte, und so packten sie zu jener Zeit, als die Kunst der Perspektive gerade erst entdeckt wurde, die Gelegenheit beim Schopf, das Blau der Ferne als ein zusätzliches Mittel einzusetzen, um ihren Werken Tiefe und Dimension zu verleihen. Oft scheint der blaue Streifen am Horizont übertrieben: Er erstreckt sich zu weit nach vorn, wechselt zu abrupt die Farbe, ist zu blau, als frohlockten sie so sehr über dieses Phänomen, dass sie zu viel des Guten taten. Unterhalb des Himmels, über dem vermeintlichen Sujet des Gemäldes, in den Bildräumen vor dem Horizont, malten sie eine kleine blaue Welt: blaue Schafe, einen blauen Schäfer, blaue Häuser, blaue Berge, eine blaue Straße und einen blauen Wagen.
Man sieht sie immer wieder, die blaue Weite, die in Solarios Gemälde von 1503 auf der gleichen Höhe wie der gekreuzigte Christus beginnt; die in einem Gemälde aus Raphaels Werkstatt über die Ruinen hinausgeht, vor denen eine wunderschöne Jungfrau Maria ihren auf einem Tuch von hellerem Blau schlafenden Sohn bewundert; in Niccolò dell’Abbates Gemälde von 1571, auf dem eine blaue Stadt und blauer Himmel zu sehen sind, hinter einer klassischen Gruppierung von, wie es aussieht, Grazien, die, inkongruent wirkend und wie nebenbei, Moses aus dem Schilf eines prächtigen Flusses ziehen, dessen Farbe aus dem Hintergrund zu kommen scheint, wie ein Färbemittel, das sich immer weiter ausbreitet. Man findet sie sowohl in der italienischen als auch in der nordischen Malerei. In Hans Memlings Auferstehungs-Triptychon von circa 1490 fahren die Zehen und der Gewandsaum einer schwebenden Figur aus dem Bildrahmen hinaus, gewagt beschnitten wie eine Figur auf einer Fotografie, obwohl es ja von Wundern keine Fotografien gibt. Darunter blickt eine Gruppe braunhaariger Männer, die Hände im Gebet und voller Verwunderung erhoben, aufwärts. Direkt über ihren Köpfen sieht man das nahe Ufer eines Sees. Der See ist blau, und dahinter liegen blaue Berge, als gäbe es drei Reiche: den Himmel, in dessen Sonnenuntergangsfarben die schwebende Figur hineinreicht, die vielfarbige Erde unten und das ferne blaue Reich, das weder zum einen noch zum anderen gehört, das nicht Teil dieser christlichen Dualität ist. In Joachim Patinirs berühmtem, rund dreißig Jahre zuvor gemaltem Bild vom Hl. Hieronymus in der Wüste ist diese Wirkung sogar noch ausgeprägter. Hieronymus kauert, unter einem zerfetztem Pultdach, in einer Art Unterstand vor einer tiefgrauen Felsformation, und die Welt dahinter ist zum Großteil blau – ein blauer Fluss, blaue Felsen, blaue Berge –, als sei er nicht vor der Zivilisation ins Exil geflohen, sondern vor jener besonderen Himmelstönung. Allerdings ist Hieronymus, genau wie eine der Figuren in Memlings Gemälde, in ein mattes Blau gekleidet, so wie viele Marien wirken, als wären sie in die Ferne gekleidet, als hätte sich ein Teil dieser mehrdeutigen Ferne nach vorne verschoben.
In seinem Bildnis der Ginevra de’ Benci von 1474 malte Leonardo da Vinci im Hintergrund lediglich einen schmalen Streifen blauer Bäume und blauen Horizonts, hinter den bräunlichen Bäumen, die die strenge, blasse Frau einrahmen, deren Oberteil mit Bändern desselben Blautons zusammengeschnürt ist, doch er hatte ja eine Vorliebe für stimmungsvolle Wirkungen. Er schrieb, wolle man Gebäude so malen, dass
eines weiter entfernt ist als das andere, dann mußt du das mit einer etwas dichteren Luft darstellen … Also wirst du das erste Gebäude … in seiner natürlichen Farbe malen, das weiter entferntere weniger scharf umrissen und blauer, und dasjenige, das noch einmal so weit entfernt sein soll, male noch einmal so blau; dasjenige, das fünfmal so weit entfernt sein soll, male fünfmal so blau …
Die Maler schienen ganz hingerissen von dem Blau der Ferne; sieht man sich diese Gemälde an, kann man sich eine Welt vorstellen, in der man durch eine weite Fläche mit grünem Gras, braunen Baumstämmen und weiß getünchten Häusern gehen könnte, und irgendwann käme man dann im blauen Land an: Gras, Bäume und Häuser würden blau, und blickte man an sich herunter, wäre man eventuell auch blau, so wie der hinduistische Gott Krishna.
In den Cyanotypien, den blauen Fotografien, des 19. Jahrhunderts, wurde diese Welt dann Wirklichkeit – »cyan« bedeutet »blau«, obwohl ich immer gedacht hatte, dieser Begriff beziehe sich auf das Cyanid, mit dessen Hilfe die Abzüge hergestellt wurden. Cyanotypien waren billig und leicht herzustellen, weshalb manche Amateure ausschließlich mit der Cyanotypie arbeiteten und manche professionellen Fotografen das Medium benutzten, um Probeabzüge anzufertigen, die sie so behandelt hatten, dass die Bilder innerhalb weniger Wochen verblassen und verschwinden würden: Diese verschwindenden Bilder waren als Muster gedacht, von denen man dauerhafte Abzüge in anderen Farbtönen bestellen konnte. In den Cyanotypien betritt man eine Welt, wo Dunkel und Hell blau und weiß sind, wo Brücken und Menschen und Äpfel so blau wie Seen sind, als wäre alles, was man sieht, geprägt durch die melancholische Stimmung, die das Cyanid hier hervorruft. Auf Postkarten überlebte diese Farbe bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts: Ich besitze einige Karten von blauen Palästen und blauen Gletschern, blauen Denkmälern und blauen Bahnhöfen.
Es gibt ein Fotoalbum mit ovalen Bildern, aufgenommen gegen Ende des 19. Jahrhunderts von einem Mann namens Henry Bosse. Es sind alles Bilder vom oberen Mississippi, und es sind alles blaue Cyanotypien. Zunächst scheinen sie ein Zauberreich darzustellen, den Fluss, wie er einmal war, doch Bosse arbeitete mit den Ingenieuren zusammen, die den Strom regulierten und begradigten, die aus einem wilden, mäandernden Ungetüm mit Inseln und Strudeln und sumpfigen Ufern ein schmaleres und schneller fließendes Gewässer machten, einen ausgebaggerten, eingedämmten Strom für einen zügigen Handelsverkehr. Sie bauten Flügeldeiche, die in den Fluss hineinragten, die Sedimente festhielten und die natürlichen Flussränder auslöschten, baggerten ihn aus und versiegelten ihn, doch Bosses Bilder sind schöner, als es reine Dokumente und Bauunterlagen sein müssen – jedes einzelne eine Kamee in Blau, blau bis hin zum Vordergrund, den blauen Rangierbahnhöfen und den sich im Bau befindlichen blauen Brücken. Doch in der Welt, in der wir tatsächlich leben, ist die Ferne, sobald wir in ihr ankommen, nicht mehr fern, nicht mehr blau. Aus der Ferne wird Nähe, allein es sind nicht dieselben Orte.
Während eines trockenen Jahres sank der Wasserspiegel im Great Salt Lake einmal so stark ab, dass ein Großteil des Sees zu Land wurde, und ich ging hinaus in Richtung Antelope Island, das über seinem Spiegelbild schwebte, ein solides, symmetrisches Objekt wie ein Edelstein, im fernen Blau vor mir schwebend. Was bis vor Kurzem noch See gewesen war, war jetzt ein kilometerweit reichendes Puzzle aus Wasserlachen und feuchtem und trockenem Sand, aus seichten Lagunen mit klarem Wasser und langen Sandfingern, die auf die Insel und ihr Spiegelbild in dem in der Ferne gelegenen tieferen blauen Wasser zuliefen. Manchmal endeten die Sandbänke im Wasser und ich musste mir einen anderen Weg suchen, doch konnte ich stundenlang und kilometerweit mehr oder weniger direkt auf die Insel zugehen. Der Boden, über den ich ging, war zuweilen gerippter Sand, zuweilen glatt, manchmal brach er unter mir ein, als lägen Luftlöcher darunter, manchmal quatschte er unter meinen Füßen, sodass meine Fußabdrücke dort, wo mein Gewicht das Wasser verdrängt hatte, von hellerem Sand umgeben waren. Da sich hinter mir ein langes Band von Fußstapfen entrollte, konnte ich mich nicht wirklich verlaufen, doch ich verlor die Zeit aus den Augen, verlor mich auf jene andere Art, die nichts damit zu tun hat, dass man sich verirrt, sondern damit, dass man dort eintaucht, wo alles andere wegfällt.
Читать дальше