Jetzt ist nichts mehr übrig. Kein einziger Überlebender existiert noch auf der Planetenoberfläche.
Die einzigen Nausikaaner, die in der Galaxis übrig sind, sind jene, die nicht in der Heimat weilten, als die Borg kamen. Eine Handvoll Schurken, Plünderer und unabhängiger Händler. Das, was bei unserem Volk einem Militär am nächsten kam, ist zusammen mit diesem Planeten gestorben. Genauso wie unsere streitsüchtige Regierung und jedes letzte bisschen an Reichtum, den wir als Zivilisation besaßen.
Wir waren schon immer eine stolze Spezies. Stark. Unabhängig. Furchtlos.
Aber jetzt sind nur noch so wenige von uns übrig. Eine falsche Entscheidung könnte unser Aussterben bedeuten.
Als ich aufwuchs, lernte ich, dass Nausikaaner niemals um etwas bitten. Nicht um Hilfe, nicht um Gefallen, nicht um Gnade. Was wir wollen, nehmen wir uns. Was wir haben, behalten wir. Das ist unsere Art. Aber wie holen wir uns unsere eigene Vergangenheit zurück? Unsere Identität? Tausende von Zyklen an Geschichte, Mythologie, Musik, Kunst, Literatur, Dichtung und Glauben … alles fort und verloren.
Alles, was wir waren. Zerstört in einem Blitz aus Licht und Hitze.
Wir letzten Überlebenden treiben hilflos durch das Nichts. Zu stolz, um zu bitten. Zu schwach, um zu erobern. Das nausikaanische Volk ist zu Abfall geworden, der von der grausamen, endlosen Strömung der Zeit davongespült wird.
Ausgelöscht ohne Grund. Nicht, weil wir etwas hatten, das die Borg wollten, oder etwas darstellten, das sie fürchteten. Sondern bloß, weil unser Sternensystem zwischen dem Ankunftspunkt der Borg im Alpha-Quadranten, dem Azur-Nebel, und ihrem Endziel, dem Sol-System, lag.
Der Erde.
Unsere Welt wurde ermordet, weil sie sich auf der kürzesten Route der Borg zur Erde befand.
Mein Volk hat die Borg nie herausgefordert. Sie haben sich nie für uns oder unsere Technologie interessiert. Sie haben uns in Frieden gelassen und wir sie. Bis sie die Föderation getroffen haben. Da hat sich alles verändert. Nachdem die Föderation und ihre Sternenflotte mit den Borg Kontakt aufgenommen hatte, war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis etwas wie das hier passieren würde.
Es ist immer die gleiche Geschichte mit der Sternenflotte. Sie fühlt sich so überlegen. Sie ist so überzeugt von sich selbst.
Und jetzt sind Milliarden meiner Leute tot. Ausgerottet wie Ungeziefer. Und auf anderen Welten ist das Gleiche geschehen, wieder und wieder. Mehr als sechzig Milliarden lebendig verbrannt, jeder von ihnen ein Opfer auf dem blutgetränkten Altar der Föderationsarroganz.
Manche wollen die Borg für diese Schrecken verantwortlich machen. Aber die Borg sind fort. In der Caeliar-Gestalt aufgegangen. All ihrer Verantwortung enthoben, von all ihren Sünden reingewaschen.
So sei es. Ich weiß, wer wirklich verantwortlich ist.
Ich wende mich von dem endlosen Feld der Zerstörung ab und blickte auf die wenigen Dutzend Überlebenden. Sie in diesem brutalen, gleichgültigen Universum zu verteidigen, ist ab heute meine heilige Pflicht. »Genug!« Meine Stimme ist rau. Ich deute auf mein Schiff, die Seovong , die nicht weit entfernt auf einem kleinen Felsplateau parkt und deren hintere Zugangsrampe offen steht. »Wir verschwinden.«
Mein Erster Offizier Kradech tritt auf mich zu. »Kinogar«, sagt er in leisem Tonfall, »die Frauen und Jünglinge brauchen mehr Zeit.«
Er war schon immer weniger hartherzig als ich. Ich schüttle den Kopf.
»Eine Stunde oder einen Tag zu klagen, macht keinen Unterschied. Selbst wenn wir weinen, bis unsere Augen keine Tränen mehr haben, wird unsere Welt immer noch tot sein.« Ich nicke in Richtung des Schiffs. »Schafft sie an Bord.«
Meine Miene ist ausdruckslos, aber mein Herz heult vor Schmerz, als ich zusehe, wie Kradech und meine anderen treuen Männer die Handvoll unserer trauernden Verwandten zurück ins Schiffsinnere führen. Manche von ihnen klammern sich an winzige Erinnerungen aus unseren früheren Leben. Eine Frau – die Glückliche – hat ein Buch, das in unserer Muttersprache geschrieben ist. Ich sehe einen Jüngling, der ein Holzblasinstrument bei sich trägt. Womöglich weiß er nicht mal, wie es gespielt wird, aber trotzdem wurde ihm eingeschärft, es zu bewahren und zu beschützen.
Soweit ich weiß, sind wir alles, was vom Volk der Nausikaaner übrig ist.
Um ihretwillen werde ich die Föderation für das bezahlen lassen, was wir verloren haben.
Ich unterdrücke meine brennenden Tränen, während ich mein Schiff betrete und zu den Sternen aufsteigen lasse. Hinter uns bleibt die Leiche meiner Welt zurück – und mit ihr ein Stück meiner Tegol .
JANUAR 2387
Der Kragen von Jean-Luc Picards Galauniform lag eng wie eine Schlinge um seinen Hals. Er schob den Zeigefinger dahinter und zog behutsam daran, um ihn ein wenig zu lockern. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass er früher so eng saß . Aus dem Augenwinkel gewahrte er, dass er die Aufmerksamkeit seiner Frau, Doktor Beverly Crusher, erregt hatte, die neben ihm in dem Shuttle Galileo saß. Er ließ den Kragen los und richtete den Blick nach vorn. Draußen glitten die Türme und Dachspitzen von San Francisco vorbei.
Crusher trug ebenfalls ihre Ausgehuniform. Picard hatte sie daran erinnert, dass es für sie nicht nötig war, sich das anzutun, aber sie hatte darauf bestanden. »Wir stecken da beide mit drin, Jean-Luc«, hatte sie ihm vor einer Stunde erklärt, als sie sich in ihrem Quartier an Bord der Enterprise umgezogen hatten.
Ich hoffe nur, das wird sich nicht als wahr herausstellen .
Seit sie die Galileo bestiegen hatten, hatten sie kein Wort miteinander gewechselt. Ihr Flug hinunter vom Erdorbit war kurz gewesen und beherrscht von dem Unbehagen vor dem, was sie am Ende erwarten würde. Sie hatten diese Reise so lange wie möglich vor sich hergeschoben – zunächst durch Ausreden, dann durch eine Mission weit jenseits der Föderationsgrenzen. Aber die Zeit für Verzögerungen und Ausweichmanöver war vorbei.
Ich kann nicht länger davor weglaufen. Es wird Zeit, für meine Taten einzustehen .
Mitglieder des Föderationsrats hatten schon seit Wochen Picards Anwesenheit eingefordert, seit Sektion 31 öffentlich bloßgestellt worden war. Denn mit dieser Bloßstellung war, neben all ihren Verbrechen außerhalb und innerhalb der Föderation, auch enthüllt worden, dass Picard und mehrere Flaggoffiziere der Sternenflotte Schlüsselrollen in der gewaltsamen Absetzung von Föderationspräsident Min Zife sieben Jahre zuvor gespielt hatten. Dabei war Picard genauso wie jedermann sonst von der Neuigkeit schockiert worden, dass Sektion 31 zusätzlich so weit gegangen war, Zife und seine Topberater direkt nach ihrem Rücktritt zu exekutieren.
Wenn ich das nur gewusst hätte … Der Gedanke führte nirgendwohin. Wenn er auf diese von Furcht beherrschten, gewalttätigen Tage zurückblickte und sich fragte, was er anders hätte machen können, fiel ihm keine Antwort ein. Die Tezwa-Krise hatte zu den dunkelsten Zeiten in seiner Sternenflottenlaufbahn gehört. Millionen waren gestorben, ein Planet und ein Volk waren zerstört worden, und all das für nichts. Er hatte gehofft, nie wieder daran denken zu müssen, doch die Schrecken von damals verfolgten ihn bis heute. Er vermochte ihnen ebenso wenig zu entrinnen wie seinem eigenen Schatten.
Eine Veränderung in der künstlichen Schwerkraft des Shuttles und ein Absenken der Nase warnten Beverly und ihn vor dem, was kommen würde, noch bevor ihre Pilotin, der rothaarige Lieutenant Allison Scagliotti, über die Schulter blickte. »Captain, wir befinden uns im Landeanflug auf das Sternenflottenhauptquartier.«
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