»Ich lese in der Bibel«, sagte sie und stand dort unten breit und viereckig und war traurig, weil sie irgendetwas in ihrem Leben nicht bekommen hatte. Und nun war es zu spät, es sich zu nehmen.
Es ist merkwürdig, aber ich arbeitete in Chamonix weniger für das Blatt als für Braumann. Er war der beste Produktionschef, den ich je erlebt habe, und immer empfand ich ihm gegenüber eine Art kindlich-hastiger Dankbarkeit. Er besaß die Gabe, wenig zu sprechen und sofort zu verstehen, wenn Schwierigkeiten auftauchten. Niemals erlebte ich bei ihm das sinnlose Geschwätz so vieler Chefredakteure oder Ressortleiter, die sich in dümmlichen Sentenzen verlieren, um ihre Wichtigkeit zu beweisen. Das erwähne ich nur, um die Intensität zu erklären, mit der ich in jener Zeit arbeitete. Es wäre dumm anzunehmen, dass mich irgendetwas Verpflichtendes an meinen Verleger band. Ich kannte ihn nicht einmal. Der Verleger war für uns Reporter eine Gruppe von sehr feinen Leuten, die allesamt versuchten, sich gegenseitig die Schreibtische und ihre Bedeutung zu stehlen. Einige von ihnen hatten den Mut, sich als Journalisten zu bezeichnen, obwohl sie nie etwas anderes waren als zu hoch bezahlte Bürovorsteher. Und Braumann war nicht so.
Nach einer Viertelstunde verließ ich mein Zimmer wieder, und das Mädchen wartete unten im Speiseraum auf mich. Sie sagte fröhlich: »Ich habe es gewusst. Was wollen Sie jetzt in der Nacht noch unternehmen?« Sie war stolz.
Ich bin heute nicht mehr sicher, was ich in jenen Sekunden dachte. Vielleicht ekelte ich mich vor der keuschen Behutsamkeit von Eichhörnchen. Vielleicht ist es auch natürlich, dass man nach sieben Jahren Ehe ausbricht. Möglicherweise sah ich die Brüste dieses Mädchens und hatte einfach Lust.
Aber ich weiß, dass ich sagte: »Wir sind Konkurrenz!« Aber ich sagte es nicht ernsthaft.
Sie war sehr eifrig. »Aber ich werde Herrn Bernhold nichts sagen. Ich will etwas lernen.«
»Schön«, sagte ich, »trinken wir erst einen Kognak.«
»Die Wirtin ist schon schlafen gegangen.«
»Das macht nichts. Da drüben steht die Flasche. Ich werde einen Zwanzig-Franc-Schein hinlegen, und sie wird glücklich sein.«
Das Mädchen kicherte, und ich ging die Flasche holen. Ich war mir durchaus der Notwendigkeit bewusst, von diesem Augenblick an so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Jörg hatte gesagt: »Wenn du anfängst, Schnaps zu saufen, kann es sein, dass du schnell besinnungslos wirst. Du musst dich mit deinem ganzen Willen darauf konzentrieren, sofort nach Hause zu gehen. Du musst in den wenigen Minuten, die dir bleiben, sofort ein Taxi rufen. Dann musst du einsteigen.« Das war damals zwei Jahre her, und irgendwie hatte ich es immer geschafft. Immer hatte Eichhörnchen mir geholfen, plötzlich zu sagen: »Ich will nicht mehr«, und dann war es immer nach zwei oder drei Tagen gut gewesen, und ich hatte monatelang arbeiten können, ein Glas Wein getrunken und manchmal sogar einen Liter, ohne nach Schnaps zu verlangen. Ich war kein Säufer, ich war nur jemand, der in angemessenen Perioden all den Schmutz, den er gesehen hatte und in sich trug, fortwaschen wollte.
Ich goss uns den Kognak in Weingläser. »Passen Sie auf. Vielleicht ist das, was ich sage, Unsinn, aber ich glaube daran. Zweimal ist ein Hubschrauber in den Berg geflogen, immer waren nur Gebirgsjäger an Bord. Aber was geschieht denn eigentlich nach einem Verbrechen oder einem solch schweren Unglücksfall?«
Sie sah mich an. Sie hatte ihren Kopf auf eine Hand gestützt. Sie war voller Interesse, sie war ganz für mich da, und ihr Mund war ein wenig geöffnet, als warte sie auf einen Salto mortale in der Zirkuskuppel.
»Na, Mädchen. Das ist doch ganz einfach: Man sichert Spuren. Und wie, glaubst du, konnte man die in diesem Fall sichern?« Ich lachte und spürte den Kognak wie einen warmen Ball im Bauch.
»Ich weiß es nicht«, sagte das Mädchen.
»Man bringt die Spuren mit herunter«, murmelte ich. »Oder?« Es war theatralisch, es war widerlich, aber ich konnte nicht widerstehen.
»Aber was sollen die denn runtergebracht haben?« Sie strich die Haare aus dem Gesicht, ihre Hände waren sehr lang und schmal, und sie trug an jeder Hand drei Ringe.
»Leichen oder Leichenteile oder Wrackteile oder irgendetwas. Und das Zeug muss irgendwo hier sein.«
Sie begann zu lächeln. »Wie soll man das in der Nacht finden?«
»Hier findet heute keine Nacht statt«, sagte ich. »Das ist immer so, wenn etwas wie dies passiert ist.«
»Wo könnte das Zeug sein?«, fragte sie schnell.
»Überall. Ich suche. Wenn du willst, kannst du mitkommen. Aber du musst den Mund halten.«
»Sicherlich«, sagte sie.
Wir zogen die Mäntel an, und ich trank noch einmal von dem Kognak, ehe wir das Haus verließen. Wir nahmen uns einfach an der Hand und liefen die Straße entlang, als hätten wir ein ganz bestimmtes Ziel. Ich kam mir dümmlich vor, aber der Kognak begann das bald zu überdecken.
»Bernhold ist so aufdringlich«, sagte das Mädchen.
»Er ist ein guter Kerl«, sagte ich. »In diesem Beruf sind viele ein bisschen angeknackst.«
»Aber er ist so schnell und so eindeutig.«
Wir erreichten nach einer Weile die Kneipe am Parkplatz, und sie war immer noch voller Lärm. »Bernhold und Kohler werden hier sein und saufen«, sagte ich. »Lass uns die Hubschrauber ansehen gehen.« Und für die lächerlichen zwanzig oder dreißig Meter nahm sie wieder meine Hand, als müsse sie laufen lernen.
Es waren die kleinen Alouettes, die am Himmel wie Hornissen aussehen. Ich machte eine der Planen locker und hob sie hoch. »Hast du ein Streichholz?« Sie drückte mir eine Schachtel in die Hand, und ich leuchtete mit der kleinen Flamme hinein. Aber das Fiberglas spiegelte zu stark.
»Gibt es hier ein Krankenhaus?«
»Ich weiß nicht«, sagte sie, »aber sicherlich. Schon allein für die Knochen der Skifahrer müsste es eines geben.« Ich machte die Plane wieder fest, und wir gingen über den Parkplatz davon in das Zentrum hinein. An der Kirche stand eine Gruppe junger schwatzender Leute, und wir fragten sie nach dem Krankenhaus. Sie gaben uns sehr höflich Auskunft, wie überhaupt die Leute in Hochsavoyen höflich und herzlich sind.
Das Krankenhaus war ein alter Bau, über dem sich am Hang des Berges ein Neubau erhob. In die Mauer aus ungefügen Steinen war ein breites, schmiedeeisernes Tor eingesetzt und daneben ein schmales für Fußgänger.
»Es ist nach zwei Uhr«, sagte das Mädchen. »Sie werden uns nicht hereinlassen.«
»Wir müssen es versuchen«, sagte ich. Die kleine Pforte war offen, eine schmale Rinne im Schnee führte auf das alte Haus zu, in dessen Eingang mattes Licht war. »Bonsoir!«, sagte ich. In dem Glaskasten saß eine alte Nonne mit rundem, gutmütigem Gesicht und las in einer Zeitung. Sie sah mich an und lächelte. »Mitten in der Nacht, Monsieur?«
»Ich suche nach einem Opfer«, sagte ich.
Sie stand auf und sagte hölzern und ohne mich anzusehen: »Aber es ist doch nur eins da. Sind Sie Angehöriger?«
»Ja«, sagte ich. »Und ich muss …« Ich stockte.
Die Nonne nahm einen Schlüssel von einem schwarzen Brett und kam aus dem Glaskasten heraus. »Es ist furchtbar«, sagte sie. »Sie werden nichts erkennen.« Dann sah sie das Mädchen. »Nur ein Ring ist da, ein goldener, eine Münze. Sie werden gar nichts erkennen.«
»Das mit dem Ring könnte sein«, sagte ich. »Keine Papiere?«
Sie schüttelte den Kopf und ging vor uns her hinaus in den Schnee. »Wissen Sie, Monsieur, wir haben nur eine kleine, alte Kapelle für Sektionen. Auf so ein schreckliches Unglück sind wir hier nicht eingerichtet.« Man merkte, dass sie dankbar war für die Abwechslung. »Natürlich«, sagte ich. Die Rinne im Schnee wand sich wie ein Schlauch um den Altbau herum, führte vor dem Neubau auf einen großen, dunklen Kasten unter einem Baum zu.
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