1 ...6 7 8 10 11 12 ...21 Smythe blickte mit besonders schlechten Gefühlen auf den Berg zurück: „Der Kangchendzönga ist mehr als unfreundlich; er ist durchdrungen von einem blinden, vernunftlosen Hass gegen Bergsteiger … er unterliegt keinem Gesetz … und zählt zu den gefährlichsten, verzweifeltesten Bergflanken der Welt.“ Seine Schwierigkeiten nahmen mit der Zeit nicht ab. Als der Leiter der erfolgreichen Everest-Erstbesteigung 1953, Sir John Hunt, gefragt wurde, „Was kommt als Nächstes?“, antwortete dieser: „Kangchendzönga … die technischen Probleme der Kletterei und die objektiven Gefahren sind nochmals eine Stufe höher als jene, denen wir am Everest begegneten.“ Zwei Jahre später und 25 Jahre nach dem Versuch der IHE wurde der Kantsch von einer britischen Expedition bestiegen. Aus Respekt vor dem Glauben der Einheimischen hielten die Bergsteiger einige Meter unterhalb des Gipfels an. Für diesen Moment waren die Götter besänftigt.
KAPITEL 3: IN DEN FUSSSTAPFEN VON HUMBOLDT
Als die Bergsteiger aus dem Himalaya zurückkehrten, wurden sie von Presse, Regierungsbeamten, den Freunden und Familien mit Lob und Auszeichnungen für ihre Erfolge überschüttet. Die Deutschen waren gebannt von der Gefahr und dem Glanz des Bergsteigens, ähnlich wie Amerikas Faszination für die Raumfahrt in den 1960er-Jahren. Mitten in wirtschaftlich harten Zeiten und den nachklingenden Folgen des Ersten Weltkriegs war das Land hungrig nach Helden. Nun hatte Deutschland sie gefunden. Über die Bergsteiger brach ein Wirbelwind von Interviews, öffentlichen Vorträgen und Auftritten herein. Gespannt wollten ihre Fans hören, wie es auf dem Gipfel der Welt (oder knapp darunter) gewesen war. Der Film „Himatschal“, der im März 1931 uraufgeführt wurde, war eine hochgepriesene Sensation und trug zum Rummel bei, als er in Deutschland, der Schweiz und Österreich die Kinosäle füllte. Der Film bot dem Publikum völlig neue Bilder von exotischen Kulturen, unfassbaren Höhen und monströsen Schnee- und Eisformationen. Die gefesselten Zuschauer fühlten sich, als hätten auch sie auf Himalayagipfeln gestanden. Der Deutsche und Oesterreichische Alpenverein war stolz auf seine drei Mitglieder – Hoerlin und Schneider, denen die Erstbesteigung des Jongsong Peak gelungen war, und Uli Wieland, dem die Zweitbesteigung glückte – und ehrte sie mit eigens angefertigten Ringen, auf deren Innenseite Jongsong, 1930 eingraviert war. Ich erinnere mich nicht, dass mein Vater jemals diesen oder einen anderen Ring getragen hat. Aber ich weiß, dass er die Auszeichnung in Ehren hielt. Jahre später, als mein erster Sohn heiratete, gab ich ihm die bescheidene Trophäe, die mit einem graugrünen Opal verziert war – eine Farbe, die an die Augen seines Großvaters erinnerte.
Auf der Rückreise hatten Hoerlin und Schneider einen Abstecher nach Ägypten unternommen, wo sie eine andere Art der Kletterei durchführten: Sie bestiegen die Pyramiden, die Tausende Jahre lang die höchsten Gebäude der Erde gewesen waren. Von dort reisten sie weiter nach Palästina und besuchten das Tote Meer, 394 Meter unter dem Meeresspiegel. Und nachdem sie in Venedig wieder europäischen Boden betreten hatten, machten sie auf dem Rückweg nach Deutschland noch einen Umweg und bestiegen als Zugabe noch den höchsten Berg der Schweiz, Monte Rosa, über seine gewaltige Ostwand. Mit 2400 Metern Höhe ist sie die höchste Bergflanke der Alpen, weshalb ihre Dimensionen bisweilen mit dem Himalaya verglichen werden. 51Pallas und Schneider, die zuvor auf einem der höchsten Punkte der Erde und einige Wochen später an einem der tiefsten gestanden hatten, fügten nun eine der höchsten Wände der Welt zu ihrer Liste herausragender Unternehmungen hinzu.
Nach all diesen Abenteuern war es Zeit für Hoerlin, sich anderen Aufgaben zu widmen. Er war gereift, sicherlich durch seine Reisen, aber auch durch den Mantel des Rekordhalters. In seinen Vorträgen über die Expedition, die bisweilen bis auf den letzten Platz ausverkauft waren, betonte er mehr die Schönheit der Berge als ihre bergsteigerische Leistung, und die Großartigkeit der Naturgewalten mehr als individuelle Heldentaten. 52Gleichzeitig sprach er über die Eigenschaften eines guten Bergsteigers – Verantwortungsbewusstsein, das Suchen von Herausforderungen und das Erreichen von Zielen. Diese Qualitäten wandte er nun auf eine ernsthafte Karriere als Physiker an und nahm sein Studium an der Technischen Universität Stuttgart wieder auf. Das sorglose Studentenleben wich der stetigen Arbeit an einem höheren akademischen Grad. Nun ja […] vielleicht blieb noch etwas Zeit für Kletter- und Skitouren mit alten Freunden.
Hoerlin trat dem wissenschaftlichen Labor seines Lieblingsprofessors aus Studententagen bei: Erich Regener, ein bekannter Experimentalphysiker. Im Gegensatz zur sprichwörtlichen Reserviertheit und Förmlichkeit deutscher Professoren der damaligen Zeit war Regener zugänglich und freundlich. Er und seine Frau luden Studenten in ihr Haus zum Abendessen oder zu sonntäglichen Wanderungen in den Hügeln der Umgebung ein, gemeinsam mit ihrem Sohn und ihrer Pflegetochter. Mein Vater wurde ein enger Freund dieser reizenden Familie.
Regener war einer der führenden deutschen Experten 53in einem besonders aufregenden Forschungsgebiet: kosmische Strahlung. Wissenschaftler in Amerika, der Schweiz, Holland, Österreich, Schweden und Deutschland wetteiferten darum, die Herkunft und Eigenschaften dieser hochenergetischen Teilchen zu erklären, die beim Durchdringen der Erdatmosphäre beobachtet wurden. Wo kamen sie her und wie wurden sie gebildet? Es war seit Jahrzehnten bekannt, dass Strahlung in der Luft existierte, Nach der Entdeckung der Radioaktivität 1895 glaubten die meisten Physiker, dass eine ähnliche Art Strahlung aus der Erde die vermutliche Quelle der kosmischen Strahlung sei – eine Hypothese, die bald widerlegt wurde. 1912 zeigte ein wissenschaftlicher Instrumentenballon, dass die Strahlung in 5000 Metern Höhe viermal stärker war als auf Meereshöhe, was eindeutig bewies, dass die Erde nicht die Quelle dieser Strahlung war. Ebenso wenig war es die Sonne – eine Schlussfolgerung, zu der man durch die Beobachtung gelangt war, dass die Strahlungsintensität während einer Sonnenfinsternis nicht nachließ. 54

Erich Regener beaufsichtigt Höhenexperimente, ca. 1927 .
©Wikipedia Creative Commons
Nach einer Flaute in der Forschung während des Ersten Weltkriegs wurde die Theorie von der Herkunft der Strahlung aus der Atmosphäre ebenfalls verworfen. Der amerikanische Physiker Robert A. Millikan, 55der den Begriff „kosmische Strahlung“ prägte, postulierte 1922, dass sie aus Teilchen aus dem Weltall bestünde. Darüber hinaus schloss er, dass sie die Erde mit genügend hoher Energie bombardierte, um Atome zu zertrümmern. Diese dramatische Erkenntnis erhöhte die Dringlichkeit eingehenderer Forschungsarbeiten und brachte weitere berühmte Physiker an den gemeinsamen Tisch. Zusammen mit Rutherfords Entdeckung des Atomkerns 1911 und dem Geheimnis, was ihn zusammenhielt, machte das Wesen der kosmischen Strahlung zunehmend deutlich, das es bislang ungeahnte Energiequellen gab. Obwohl es etliche Jahre dauerte, führten diese Erkenntnisse schließlich zum Atomzeitalter – einem Zeitalter, das sowohl durch nie dagewesene Schrecken und Zerstörung wie auch unangefochtene Fortschritte in Medizin und Technik gekennzeichnet war.
Die Zeit zwischen den Jahren 1927 und 1937 war eine Periode intensiver weltweiter Forschung, mit dem Ziel, das Wesen des Bombardements mit kosmischer Strahlung und seine Herkunft zu ergründen. Die Tatsache, dass die Strahlung aus dem Weltall kam und von der Erdatmosphäre absorbiert wurde, machte ihre Erforschung in großen Höhen unumgänglich – ein weiterer Anreiz für meinen Vater. Wie er es einmal ausdrückte: „Es war nutzlos, kosmische Strahlung im Labor zu studieren, also begannen Physiker die gesamte Welt zu bereisen. Ihre Ergebnisse waren widersprüchlich – eine goldene Gelegenheit für Physiker, noch mehr zu reisen.“ 56In einem Forschungsfeld mit zahlreichen Nobelpreisträgern, das stark von Konkurrenz geprägt war, wurde über Regener und seine Arbeitsgruppe gesagt, sie hätten die Entwicklung und Konstruktion von Instrumenten zur Messung der Strahlungsintensität in verschiedenen Höhenlagen „… zu einem bislang nie dagewesenen Perfektionsgrad gebracht“ 57, und sie wurden für ihre „weitreichenden Experimente“ 58weithin bewundert.
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