1 ...7 8 9 11 12 13 ...21 Kurz nachdem er 1931 sein Diplom erhalten hatte 59, wurde mein Vater von Philipp Borchers 60kontaktiert. Er war einer jener Akademiker, welche ihre Forschungsinteressen mit der Liebe zum Bergsteigen verbanden. Als aktives Mitglied des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins war Borchers ein starker Befürworter der beiden Ziele des Vereins, den Alpinismus wie auch die Wissenschaft zu fördern und Expeditionen, die auf beiden Gebieten tätig waren, zu sponsern. 61Für Borchers war eine Expedition in die Anden, im Speziellen in die Cordillera Blanca in Nord-Peru, eine perfekte Gelegenheit, beides zu kombinieren. 62Ihre knapp südlich des Äquators gelegenen Gipfel formen die höchste und mit über 3400 Kilometern längste tropische Bergkette der Welt. Der höchste Berg der Kette und von ganz Peru ist der Huascarán, mit 6768 m knapp unter der Siebentausend-Meter-Marke. Von seinen beiden Gipfeln war der höhere noch niemals bestiegen worden. Borchers reichte einen überzeugenden Antrag beim Alpenverein ein, der im Einzelnen die Durchführung geologischer und glaziologischer Forschungen sowie die Vermessung und Kartierung der Region als Expeditionsziele aufführte. Und, wie Borchers ergänzte, „darüber hinaus stellt sich die Frage nach der Messung kosmischer Strahlung“. 63
Anfangs war mein Vater noch vorsichtig, Borchers’ Einladung zur Expedition 1932 anzunehmen. Aber es wurde deutlich, dass sich die jeweiligen Pläne von Borchers, Regener und Hoerlin zum gegenseitigen Vorteil kombinieren ließen. Borchers suchte herausragende Bergsteiger für sein Team und wollte gleichzeitig wissenschaftliche Untersuchungen fördern. Regener hing an seinem emsigen Assistenten und sah eine Gelegenheit, die Erforschung der kosmischen Strahlung durch Beobachtungen in großen Höhen nahe dem Äquator vorwärtszubringen. Mein Vater stand gerade am Beginn seiner ernsthaften Karriere, die er nicht aufgeben wollte – und doch war da der Ruf der Berge. Südamerika war aus einem weiteren Grund besonders faszinierend für ihn: Einer der Helden seiner Kindheit, Alexander von Humboldt, war berühmt für seine Forschungsreisen auf diesem Kontinent. War dies eine Chance, in Humboldts wissenschaftliche und bergsteigerische Fußstapfen zu treten?
Die Zeit und die Umstände waren perfekt. Rund um die Welt wurde eine hitzige wissenschaftliche Debatte um das Wesen der kosmischen Strahlung geführt – bestand sie aus Photonen oder Protonen? Protonen, die Kerne der Wasserstoffatome, sind Teilchen mit positiver elektrischer Ladung und Grundbestandteile größerer Atomkerne. Im Gegensatz dazu sind Photonen im Wesentlichen Teilchen elektromagnetischer Strahlung, d. h. Licht, und tragen keine elektrische Ladung. Einer der führenden Physiker auf diesem Gebiet, Millikan, war ein tiefreligiöser Mann und argumentierte, kosmische Strahlen seien Photonen. Er beschrieb sie populär als „Geburtsschrei“ von Atomen und behauptete, sie wären von Gott ausgesandt, um der Zunahme der Entropie („Unordnung“) im Universum entgegenzuwirken. Diese Sicht wurde von anderen Wissenschaftlern in Frage gestellt, vor allem durch Millikans Landsmann Arthur Compton, ebenfalls ein Nobelpreisträger. 64Es war ein Kampf zwischen den Nobel-Giganten, der überdeutlich anhaltende Spannungen zwischen Religion und Wissenschaft illustrierte – Spannungen, die sich bis heute fortsetzen.
Die Antwort auf das Rätsel der kosmischen Strahlung lag im Verstehen der Auswirkungen des Erdmagnetfelds auf die Strahlung. Ein entscheidender Unterschied zwischen Photonen und Protonen ist, dass Letztere aufgrund ihrer elektrischen Ladung den Einfluss des Erdmagnetfelds spüren, während die ungeladenen Photonen dies nicht tun. Die wechselnde Stärke des Erdmagnetfelds in Abhängigkeit von der geografischen Breite bedeutet, dass sich in einem Fall die kosmische Strahlung auf den Äquator hinbewegen würde, im anderen Fall nicht. Zusammengefasst: Kosmische Strahlung würde sich nicht nur mit der Höhe unterschiedlich verhalten, wie zum Beispiel zwischen den Alpen und dem Bodensee (wo Regener Experimente durchführte), sondern auch mit der geografischen Breite – wie zwischen Stuttgart und Lima. 1932 waren drei unterschiedliche Forschungsgruppen auf der Suche nach dem Breiteneffekt: Compton mit seinem Team verteilte sich auf fünf Kontinente, Millikan bereiste den Polarkreis und schickte einen seiner Doktoranden nach Südamerika, und Regener schickte Hoerlin nach Peru.
Die fünfzehn Monate vor der Abreise der Expedition am 31. März 1932 mühte sich mein Vater mit der Anfertigung und Verbesserung der Ausrüstung ab. Er versuchte, sie widerstandsfähig genug gegenüber der langen Reise, der Hitze und Feuchtigkeit der Tropen, dem Transport auf Maultieren und Trägern und schließlich den verheerenden Höhenstürmen zu machen. Obwohl Borchers seine Forschungen ohne Einschränkungen unterstützte, ließ ihn die Ankunft des „Reisegepäcks“ meines Vaters am Bremer Hafen nach Luft schnappen: 550 Kilo an Ausrüstung, zwei Kubikmeter im Volumen. „Du hast wohl die Kaaba aus Mekka geraubt!“, rief Borchers aus. 65
Während der fünfwöchigen Reise vertrieben sich die Bergsteiger – unter ihnen Pallas’ Kletterpartner Erwin Schneider – die Zeit, indem sie tagsüber Shuffleboard spielten (eine Art Curling auf dem Schiffsdeck) und abends Spanisch lernten. „Der Einzige, der von Anfang an wirklich intensiv arbeitete – war Hoerlin.“ Stundenlang nahm er im stickig heißen, von den Dieselabgasen der Motoren durchdrungenen Frachtraum des Schiffs Messungen vor, wo seine Instrumente installiert waren. 66Als das Schiff die Hitze und Feuchtigkeit des Panamakanals durchfuhr, wurden die Bedingungen an Bord unerträglich.
Bei der Fahrt durch den 77 Kilometer langen Kanal richtete sich die Aufmerksamkeit von jedem an Bord auf diesen überwältigenden Triumph der Ingenieurskunst. Ein kompliziertes System aus drei massiven Schleusen, von denen jede einzelne ein Schiff um gut 25 Meter anhob, erlaubte die Passage zwischen den großen Ozeanen Atlantik und Pazifik. Der Frachter erreichte den Pazifik Ende April, wo er bei Vollmond und unter einem sternenklaren Himmel von einem Schwarm Delfine wie von einer Eskorte begrüßt wurde. Der Zauber dieser Begrüßung der Gruppe in Südamerika verstärkte sich noch, als sie bei Sonnenaufgang die schneebedeckte Kette der Cordillera im Sonnenlicht erglühen sah. Schneider war so inspiriert von dem Anblick, dass er es „Gottes eigenes Land“ nannte – eine Bezeichnung, die er noch 35 Jahre später benutzte. 67

Die Täler der Cordillera Blanca in den Anden
Die Verbindung zwischen Deutschland und Südamerika ist historisch gewachsen. Der deutsche Kosmopolit und die Inspiration meines Vaters, der Wissenschaftler, Forscher und Naturalist Alexander von Humboldt (1769–1859), hatte viele Jahre in Südamerika zugebracht. Wie sein schriftstellerisches Gegenüber, der Dichter und Freund Johann Wolfgang von Goethe, reichte Humboldts Berühmtheit über die Grenzen seiner Heimat hinaus. Unter seinen Bekannten und Bewunderern waren Napoleon, der venezolanische Unabhängigkeitskämpfer Simon Bolivar und der amerikanische Founding Father Thomas Jefferson. Humboldt legte die Grundlagen für die moderne Geografie und Meteorologie und war darüber hinaus ein Pionier bei der Erforschung des Erdmagnetfelds. Außerdem war er ein Bergsteiger, der 1802 am Chimborazo in Ecuador einen damaligen Höhenrekord von rund 5900 m aufstellte, auch wenn er den Gipfel nicht erreichte. 68Humboldts kleines Buch mit dem passenden Titel Über einen Versuch, den Gipfel des Chimborazo zu ersteigen 69hatte mein Vater mit 12 Jahren von seinem Vater geschenkt bekommen. Es begleitete Pallas auf seiner Reise nach Peru. Heute steht es in meinem Bücherregal, abgegriffen vom vielen Lesen meines Vaters, während er zweifellos davon träumte, Humboldts Spuren zu folgen. Zeit seines Lebens bewunderte Hoerlin, wie Humboldt seine Unternehmungen mit Beiträgen zur Wissenschaft verbunden hatte. 70Der Gedanke machte ihm besondere Freude, dass die Untersuchung der Effekte des Magnetismus in großen Höhen zwei bedeutende Vermächtnisse Humboldts kombinierte.
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