Sprosse um Sprosse suchte ich mit den Füßen Halt. Der Wind fuhr unter Mamas Flügel und blies mir die Federn ins Gesicht.
Nicht runterschauen, dachte ich, bald ist es vorbei.
Von unten wirken zehn Meter nicht sonderlich hoch, aber als ich die Plattform erreichte, hatte ich wacklige Knie, und mir wurde schwindlig. Ich stellte Tirie ab und hielt mich am Geländer fest.
»Riese!«, schrie ich nach unten. »Ich bin da!«
Aber es kam keine Antwort, und auf der Wiese war niemand zu sehen. Ein Motorrad röhrte vorbei.
Erst dann merkte ich, dass die Leiter vibrierte. Und ich hörte keuchende Atemzüge.
»Puuuh!« Jadrans Gesicht tauchte am Rand der Plattform auf. Es war rot angelaufen und schwitzig. »Ganz schön hoch, oder?«
Ich trat ein paar Schritte zurück und wollte schreien, dass er sich nicht an unsere Abmachung gehalten hatte, und ihn sofort wieder hinunterschicken. Aber ich traute mich nicht. Denn jedes Wort konnte verkehrt sein, konnte seine Lunte entzünden.
Ich dachte an das, was ich bei Mama schon oft gesehen hatte: drei Sekunden die Augen zumachen, tief Luft holen und dann möglichst ruhig mit ihm reden.
»Halt dich mit beiden Händen fest, Riese.«
Tirie hatte keine Höhenangst. Seine spitzen Krallen klackerten auf dem Metallboden.
»Du musst die Flügel bewegen«, sagte Jadran, »damit Tirie sieht, wie es geht.«
»Das ist hier zu gefährlich«, wandte ich ein.
»Dann mach ich’s eben.« Jadran packte meinen Arm und wollte mir die Flügel abnehmen.
»Lass das!« Ich riss mich los und trat an den Rand der Plattform. Dann streckte ich die Arme seitlich aus.
Jadran dirigierte Tirie zu mir hin und redete dabei auf ihn ein: »Schau zu, mein Vögelchen. So geht Fliegen. Flügel spreizen und dann springen. Verstehst du?« Und zu mir sagte er: »Auf und ab, Josh. Immer auf und ab.«
Es war schaurig tief, und ich hatte Mühe, die riesigen Flügel ausgebreitet zu halten.
»So, jetzt ist es genug«, flüsterte ich. »Tirie hat’s kapiert.«
»Hat er nicht!«
»Vielleicht ist er noch nicht so weit …«
Zornig stampfte Jadran auf. »Mach endlich, Josh! Los!«
Im nächsten Moment erklangen von unten laute Rufe. Ich sah Yasmin über die Wiese rennen, anscheinend suchte sie uns. Sie sah hinter dem Fahrradschuppen nach, und als sie den Metallboden unter Jadrans Füßen dröhnen hörte, schaute sie hoch. Einen Augenblick lang mit offenem Mund.
»Was treibt ihr da?«, rief sie dann.
Ich legte die Flügel an und trat ein Stück zurück.
»Tirie lernt fliegen!«, brüllte Jadran. »Schau!«
Neben mir stand Tirie und hatte beide Flügel gehoben, auch den verletzten. Endlich ahmte er mich nach.
»Siehst du!« Jadrans tiefe Stimme hallte zwischen den Hochhäusern. »Ich hab’s doch gesagt. Ich sag immer alles, oder?« Nun breitete Tirie die Flügel weit aus, was er noch nie zuvor getan hatte. Sein Körper schwankte im Wind, es sah aus, als würde er gleich emporgehoben.
Yasmin winkte mit beiden Armen. »Eure Mutter ist nach Hause gekommen. Was, wenn sie euch so sieht?!«
»Komm, Jadran«, murmelte ich. »Gleich gibt’s Essen.« Damit konnte Mama ihn sogar aus der Badewanne locken.
Pwie ie ie! Flügelschlagend hüpfte Tirie auf der Plattform herum. Pwie ie!
»Er fliegt fast«, zischte Jadran. »Wir dürfen jetzt nicht aufhören.«
Wieder schloss ich die Augen und zählte bis drei. Dann ging ich auf Tirie zu. Jadran durfte auf keinen Fall explodieren. Nicht hier, zehn Meter über dem Boden.
Ich schluckte. »Gut. Ein Mal noch. Und dann gehen wir runter, abgemacht?«
Zwei Paar Flügel öffneten sich und begannen zu schlagen.
»Stärker!«, schrie Jadran. »Schneller, Kleiner!«
Er stand jetzt dicht hinter mir und Tirie. Ich hörte ihn keuchen. Ein letztes Mal schwenkte ich die blauen Flügel.
»Nicht!«, schrie Yasmin.
»Los! Du kannst das!«, rief Jadran triumphierend. »Wenn man es ganz fest will, kann man alles!«
Und dann versetzte er mir einen solchen Stoß, dass ich von der Plattform in die Tiefe stürzte.
Das Bett, die zwei Stühle und der Schrank – alles war weiß. Die Vorhänge waren grün, aber auch der Himmel sah wie ein blütenweißes Laken aus.
»Willst du Wasser?«, fragte Mama.
Aber ich hatte keinen Durst. Ich war noch zu benommen von der Narkose.
Mama hatte mir in groben Zügen erzählt, was passiert war. Ich war aus zehn Metern Höhe in die Tiefe gestürzt und lag wie tot im Gras. Yasmin war weinend losgerannt, um Hilfe zu holen. Währenddessen war Jadran ausgerastet. Schließlich hatten sie ihn durch ein Fenster im dritten Stock hereingezerrt.
»Ich hab ihn ermordet!«, brüllte er, als der Krankenwagen mit Blaulicht angerast kam. »Ich hab meinen Bruder ermordet!«
Es brauchte vier Sanitäter, um mich auf die Trage zu heben und gleichzeitig Jadran zu bändigen. Zum Glück hatten sie Beruhigungstabletten dabei, denn allein mit Worten wäre nichts zu machen gewesen. Von den Tabletten wurde Jadrans Zunge dick, und er bekam einen Zombieblick.
Ich wurde ins Krankenhaus gebracht. Stundenlang war mein Bein operiert worden, und danach hatte ich fast rund um die Uhr geschlafen.
»Ist Tirie geflogen?« Meine Stimme klang heiser und wie von weit her, als gehörte sie jemand anderem.
Mama seufzte, und es war, als zöge damit eine dunkle Wolke ins Zimmer. »Dreimal um die Wiese, hat Yasmin gesagt.«
Frau Doktor Mbasa stand in der Tür. Sie war groß und hatte sehnige Arme. Ihre dunklen Locken schauten unter der Kappe hervor.
»Du hast viel Glück gehabt, Josh.« Sie lächelte, wie nur Ärzte es können, mit einem liebevollen Zug um den Mund und ansonsten unbewegter Miene. »Deine Wirbelsäule hat keinen Schaden genommen. Und die Beine sind auch noch dran.«
Meine Beine.
Ich schob meine Hand unter die Bettdecke und fühlte ein dünnes Krankenhaushemd und jede Menge Verband und Pflaster. Mein rechtes Bein war von der Leiste bis unter die Wade eingegipst. Und um den linken Fußknöchel hatte ich eine dicke Bandage.
»Drei Brüche und ein Wunder«, sagte Mama leise.
»Morgen bekommst du einen Rollstuhl«, sagte Frau Doktor Mbasa. »Und dann wird geübt. Glaub mir, ich mache einen Rollstuhlchampion aus dir.«
Meine Haut unter dem Gips zog sich zusammen. Mama sagte, die Operationswunde sei mit zwölf Stichen genäht worden.
»Wann kann ich wieder laufen?«, fragte ich.
»Da musst du noch ein bisschen Geduld haben«, meinte Frau Doktor Mbasa. »Aber wenn der Winter vorbei ist, rennst du wieder in die Schule.«
»Das sind ja ein paar Monate!«
Mama fand es auch zu lang, das sah ich ihr an, aber sie sagte nichts. Stattdessen stand sie auf und stopfte mir ein Kissen in den Rücken.
Um sechs kamen Murad und Yasmin, um Mama abzulösen.
Jadran saß draußen im Auto, er hatte nicht aussteigen wollen.
»Hallo«, sagte Murad.
Und »Hallo« sagte auch Yasmin.
Ich grüßte nicht zurück.
Yasmin hängte ihren Wollschal über die Heizung. Bald roch das ganze Zimmer nach nassem Schaf.
»Ich habe was Feines mitgebracht.« Murad zauberte ein Karamellbonbon nach dem anderen hervor.
Mama ging Kaffee holen. Als sie wiederkam, gab sie Murad den Plastikbecher. Dann rückte sie einen Stuhl ans Kopfende meines Betts und klopfte auf die Sitzfläche, um ihm deutlich zu machen, dass er dort sitzen sollte. »Ich schaue inzwischen nach Jadran«, sagte sie. »Später rufe ich dich noch mal an, kleiner Riese.« Sie gab mir einen Kuss, der so laut schmatzte, als wäre es ein Abschied für Jahre.
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